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Wie Sinnrich die Wahrheit suchte

Ivana Brlić-Mažuranić

autor

zbirka

Aus Urvaterzeiten - Marchen aus kroatischer Urzeit

godina

1999.

jezik

njemački

jezik izvornika

hrvatski

medij

tiskani tekst

prevoditeljica

Camilla Luzerna

ilustrator

Vladimir Kirin

sken

ilustracije

priča

 

          Vor undenklich vielen Jahren lebte einmal auf einer Rodung inmitten eines uralten Buchenwaldes der greise Wisso mit seinem drei Enkelsöhnen. Es hatte sich so gefügt, daß er, allein mit ihnen zurückgeblieben, von klein auf für sie sorgte und sie erzog.  Nun waren die Enkel schon halbwüchsige Burschen geworden, reichten Altvater bis zur Schulter und über die Schulter. Willebold, Habegehr und Sinnrich nannte man sie.

          An einem Frühlingsmorgen erhob sich der alte Wisso lange vor Sonnenaufgang, weckte seine drei Enkelsöhne und trug ihnen auf, in den Wald zu gehen, woraus sie das Jahr zuvor Honig geholt hatten, und nachzusehen, wie die Bienenvölker die kalte Zeit überdauert und ob nicht schon da und dort ein Bienchen aus seinem Winterschlafe erwacht sei. Habegehr, Willebold und Sinnrich machten sich zurecht und begaben sich auf den Weg.

          Es war ein gut Stück Weges bis zu der Stelle, wo die Bienen hausten. Doch alle drei Brüder kannten die Waldespfade. Darum drangen sie auch sicher und frohgemut in die Tiefen des Waldes ein. Im Wald aber war es noch düster und dämmerig, denn die Sonne war noch nicht aufgegangen, auch ließ ringsum kein Tier, kein Vogel sich hören. Und dieser Stille halber wurde den Brüdern beklommen zumute, denn vor Sonnenaufgang streift Bissomar, der finstere Fürst aller Waldkobolde, über des Waldes Baume, von Krone zu Krone.

          So begannen die Brüder denn einander zu fragen, was es wohl in der Welt alles g ...

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Wie Sinnrich die Wahrheit suchte

Ivana Brlić-Mažuranić

 

          Vor undenklich vielen Jahren lebte einmal auf einer Rodung inmitten eines uralten Buchenwaldes der greise Wisso mit seinem drei Enkelsöhnen. Es hatte sich so gefügt, daß er, allein mit ihnen zurückgeblieben, von klein auf für sie sorgte und sie erzog.  Nun waren die Enkel schon halbwüchsige Burschen geworden, reichten Altvater bis zur Schulter und über die Schulter. Willebold, Habegehr und Sinnrich nannte man sie.

          An einem Frühlingsmorgen erhob sich der alte Wisso lange vor Sonnenaufgang, weckte seine drei Enkelsöhne und trug ihnen auf, in den Wald zu gehen, woraus sie das Jahr zuvor Honig geholt hatten, und nachzusehen, wie die Bienenvölker die kalte Zeit überdauert und ob nicht schon da und dort ein Bienchen aus seinem Winterschlafe erwacht sei. Habegehr, Willebold und Sinnrich machten sich zurecht und begaben sich auf den Weg.

          Es war ein gut Stück Weges bis zu der Stelle, wo die Bienen hausten. Doch alle drei Brüder kannten die Waldespfade. Darum drangen sie auch sicher und frohgemut in die Tiefen des Waldes ein. Im Wald aber war es noch düster und dämmerig, denn die Sonne war noch nicht aufgegangen, auch ließ ringsum kein Tier, kein Vogel sich hören. Und dieser Stille halber wurde den Brüdern beklommen zumute, denn vor Sonnenaufgang streift Bissomar, der finstere Fürst aller Waldkobolde, über des Waldes Baume, von Krone zu Krone.

          So begannen die Brüder denn einander zu fragen, was es wohl in der Welt alles gäbe. Da jedoch keiner der drei bis nun aus jenem Walde herausgekommen war, wußte keiner dem andern etwas von der Welt zu erzählen und das mehrte noch ihre Bedrücktheit. Um sich ein wenig aufzumuntern, huben sie an zu singen und riefen den Jungen Gott Sunnabor an, die Sonne heraufzuführen:

Jung Sunnabor, Jung Sunnabor

Goldne Sonne, lichte Welt!

Jung Sunnabor, Jung Sunnabor!

Lunajlije, lunaj le!

 

          Indem sie so, aus voller Kehle singend, den Wald durchschritten, kamen sie zu einer Lichtung, von der aus ein anderer Berg sichtbar wurde. Kaum waren sie dort, so brach über jener Bergeshöhe ein Lichtglanz hervor, wie sie solchen noch nie erblickt, der wallte und wellte sich gleich einer goldenen Fahne.

          Schreck und Staunen ließ die Brüder erstarren, jener Lichtglanz aber glitt vom Berge herab. leuchtete näher zu über einem Felsblocke wieder auf, noch näher dann über dem Wipfel einer uralten Linde und endlich erstrahlte er, hell wie das lauterste Gold, gerade vor ihnen. Und sie wurden eines wunderschönen Jünglings in glänzender Kleidung gewahr, den ein goldener Mantel gleich einer goldenen Fahne umwehte. Die Brüder vermochten ihm nicht ins Antlitz zu sehen, sie deckten aus Angst und Ehrfurcht die Hände über die Augen.

          »Warum ruft ihr mich, wenn ihr mich fürchtet, ihr törichten Bürschchen«, lachte der leuchtende Jüngling, denn es war Jung Sunnabor, der so sprach. »Sunnabor ruft ihr, Sunnabor fürchtet ihr; nennt mir die lichte Welt, kennt ihr die lichte Welt? Wohlan denn, ich will euch die Welt sehen lassen, Erde und Himmel, und will euch sagen, was euch darin vom Schicksal bestimmt ist.«

          Sprach's und schwang seinen weiten, hellgoldenen Mantel im Kreise und faßte Willebold, Habegehr und Sinnrich in dessen hellgoldenen Saum. Auf schwang sich Jung Sunnabor, sein Mantel wallte und wehte und die Brüder im Mantelsaum schwangen sich, kreisten mit ihm. Schwangen, schwangen im Kreise, im Kreise sich und vor ihnen begann sich die ganze Welt zu entrollen. Zuerst erblickten sie alle Wälder und alle Felder, alle Güter und Reichtümer, die es damals auf Erden gab. Wieder dann schwangen und schwangen sie sich im Kreise, im Kreise, da sahen sie alle Heere und alle Speere, alle Hauptleute und alle Kriegsbeute, die es damals auf Erden gab. Und höher noch schwangen und schwangen sie sich im Kreise, im Kreise, und da tat sich auf einmal über ihnen mit allen Sternen und Sternchen, mit Mond und Siebengestirn, mit allen Wolken und Winden der Himmel auf.

          Die Vielfalt des Erschauten verwirrte die Brüder. Noch immerzu wehte und flatterte, rauschte und knatterte der Mantel gleich einer goldenen Fahne. Endlich tat der goldene Saum sich auf und Willebold, Habegehr und Sinnrich fanden sich wieder auf dem Rasen. Und wieder stand der goldene Jüngling Sunnabor vor ihnen und sprach:

          »So, jetzt, ihr törichten Bürschchen, habt ihr gesehen, was es auf der Welt gibt. Nun sollt ihr auch hören, was euch bestimmt ist und was ihr zu tun habt, um euer Glück zu finden.«

          Ob dieser Rede erschraken die Brüder noch mehr und sie strengten Gehör und Gedächtnis an, um alles genau zu behalten. Jung Sunnabor aber hatte indes schon gesprochen:

          »Hört also, was ihr zu tun habt: Bleibt auf eurer Rodung, verlaßt mir euren Altvater nicht, ehe er euch verläßt, und geht weder gutem noch bösem Tun nach in der Welt, bevor ihr seine Liebe vergolten habt.« – Kaum hatte Jung Sunnabor diese Worte gesprochen, da schwang er seinen goldenen Mantel um sich und verschwand, als wäre er nie gewesen; im Walde indessen wurde es heller Tag.

          All dies hatte Bissomar, der Fürst aller Waldkobolde, gehört und gesehen. Nebelgleich war er, von Krone zu Krone streichend, den Brüdern nachgeschlichen und hatte sich im Gezweig einer alten Buche versteckt. Seit langem schon haßte er den greisen Wisso. Haßte ihn, wie ein Ruchloser eben einen Gerechten haßt, am ärgsten aber haßte er ihn deshalb, weil der Greis in die Rodung das heilige Feuer getragen hatte, das nie verlöschen durfte, und der heilige Rauch reizte Bissomar zu heftigem Husten und Prusten.

          Bissomar gefiel es also mit nichten, daß die Brüder Jung Sunnabor gehorsam sein, bei ihrem Altvater bleiben und diesem dienen sollten, und so sann er darauf, wie er Wisso schaden und die Enkelsöhne gegen ihn aufbringen könne.

          Darum, als Willebold, Habegehr und Sinnrich nach so viel Wundern sich auf sich selbst besannen und den Heimweg antraten, da fuhr Bissomar, so rasch er konnte, wie eine Wolke im Wind auf das Waldtal zu, in dem sich ein großes Röhricht ausdehnte. Dieses Röhricht stak voll von Koboldgezücht. Winzige ruppige, höckerige, gefleckte, schieläugige Kerlchen und derlei Ungestalt mehr trieben sich in jenem Röhricht herum. Dort pfiffen und pfauchten, zirpten und zeterten sie, johlten und tollten, kicherten, kollerten umher und verübten jederart Unfug. Lauter törichte und kopflose kleine Tröpfe, die zu nichts taugen und niemand zu schaden vermögen, ehe ein Mensch sie zu sich nimmt. Gerade das hatte Bissomar sich aber vorgesetzt.

          Darum wählte er drei aus ihrer Schar und befahl jedem der drei, Sich an je einen der Brüder heranzumachen; dabei müßten sie zusehen, wie sie dem alten Wisso durch jene zu schaden vermochten.

          Wäihrend Bissomar so seine Diener auswählte, gingen Willebold, Habegehr und Sinnrich ihres Weges und waren vor Schreck so betäubt, daß sie weder behielten, was sie im Fluge erschaut, noch was Sunnabor zu ihnen gesprochen hatte. Bei ihrer Hütte angelangt, setzten sie sich auf einen Stein und erzählten Altvater Wisso, was sich mit ihnen ereignet hatte.

          »Was also hast du im Fluge erschaut und was hat Jung Sunnabor zu dir gesprochen?« fragte Altvater Habegehr, den ältesten seiner Enkel. Habegehr geriet in Verlegenheit, denn er hatte sich nichts gemerkt, konnte sich auch an Sunnabors Ausspruch nicht mehr erinnern. Doch unter dem Stein, auf dem sie saßen, schlüpfte ein kleiner, kleinwinziger Kobold hervor, gehörnt und höckerig, grau wie eine Maus.

          Der Kobold zupfte Habegehr von hinten am Hemde und raunte ihm zu: »Sag: Reichtümer c schwere Menge hab' ich gesehen: Bienenvölker zu Hinderten, eine Hütte aus schon glättetem Holz und einen Haufen der kostbarsten Felle. Und ich werde der Reichste unters Brüdern sein, hat Jung Sunnabor zu mir gesagt.«

          Habegehr dachte gar nicht darüber nach, ob das, was der Kobold sprach, auch die Wahrheit sondern freute sich dessen und wiederholte Altvater, Was jener ihm zuflüsterte. Kaum hatte er ausgeredet, so sprang der Kobold in Habegehrs Schultersack, verkroch sich in einem Zipfel und blieb darin.

          Wisso fragte nun Willebold, seinen zweiten Enkel, was dieser im Fluge erschaut und was Jung Sunnabor zu ihm gesprochen habe.- Auch Willebold hatte nichts gesehen und nichts behalten, doch unter dem Steine schlüpfte der zweite Kobold hervor, häßlich und höckerig, kleinwinzig, gehörnt, dabei braun wie ein Wieselchen. Der Kobold zupfte Willebold hinten am Hemde und raunte ihm zu: »Sag: Viele Bewaffnete, viele Bogen und Pfeile hab' ich gesehen und viele Sklaven in Ketten. Und ich werde der Mächtigste unter uns Brüdern sein, hat Jung Sunnabor zu mir gesagt.«

          Gleich Habegehr dachte auch Willebold über nichts nach, sondern war sehr erfreut und log Altvater vor, was ihm zugeraunt wurde. Der Kobold aber sprang ihm sofort an den Hals, schlüpfte ihm unters Hemd, verbarg sich an seiner Brust und blieb daselbst.

          Wisso fragte nun Sinnrich, den jüngsten Enkel, doch auch der hatte sich nichts gemerkt. Da kroch unterm Steine der dritte Kobold hervor, der jüngste, häßlichste, vielzackig gehörnt, der schwarz wie ein Maulwurf war.

          Der Kobold zupfte Sinnrich am Hemde und raunte ihm zu: »Sag: Den ganzen Himmel und alle Sterne und alle Wolken hab‘ ich gesehen. Und ich werde der Größte unter den Weisen sein und die Sprache der Winde und der Gestirne verstehen, hat Jung Sunnabor zu mir gesagt.«

          Aber Sinnrich liebte die Wahrheit sehr, deshalb wollte er weder dem Kobold gehorchen noch seinen Altvater belügen, er schüttelte also den Kobold von seinem Fuße und sagte:

          »Altvater, ich wei3 weder, was ich erschaut, noch was ich vernommen habe.«

          Da quickte der Kobold, biß Sinnrich in den Fuß und schlüpfte wie eine Eidechse unter den Stein. Sinnrich aber suchte gleich nach dem bittersten Kräutlein und verband seinen Fuß, damit er so rasch als nur möglich heile.

 

2

 

          Als Sinnrich den Kobold abgeschüttelt hatte, war dieser zuerst unter den Stein geschlüpft, dann aber schlich er sich ins Gras, entsprang von da in den Wald und aus dem Walde ins Röhricht.

          So kam der Kobold vor Bissomar und klapperte vor Angst mit den Zähnchen. »Bissomar, böser Zar, ich habe den Burschen, dem du mich bestimmt hast, nicht zu überlisten vermocht. «

          Da geriet Bissomar in entsetzliche Wut, denn er kannte jene drei Brüder und hatte sich gerade Sinnrichs wegen gefürchtet, daß dieser sich auf die Wahrheit besinnen könnte. Geschah dies aber, dann würde Bissomar weder den alten Wisso noch das heilige Feuer los.

          Bissomar packte also in seinem Zorn den kleinen Kobold bei dessen Gehörn, hob ihn in die Luft und bearbeitete ihn weidlich mit einer Birkenrute.

          »Zurück«, schrie er dann, »zurück zu jenem Burschen und wehe dir, wenn er sich auf die Wahrheit besinnt!

          Hierauf ließ Bissomar den Kobo|ld fahren. Erschrocken hockte und bockte dieser wie ein erzfeiges Kerlchen sodann drei Tage' i m Röhricht und zerbrach sich den Kopf darüber, wie er seine schwere Aufgabe ausführen könne.-»Wird‘ mich mit diesem Sinnrich da gerade so plagen müssen wie er mit mir, dachte der Kobold. Er war aber nur ein nichtiger Possenreißer, zu mühsamer Arbeit hatte er gar keine Lust.

          Während er so im Röhricht hockte und bockte, waren die beiden anderen Kobolde, der eine in Habegehrs Schultersack, der andere unter Willebolds Brustlatz, schon an der Arbeit. Habegehr und Willebold begannen seit jenem Tage in Berg und Tal umherzustreifen und kamen nur selten zur Nacht in ihre Hüfte zurück. Soviel hatten die Kobolde schon bewirkt.

          Am Grunde von Habegehrs SchulteTsack Kauerte dessen Kobold und diesem Kobold gingen Reichtümer über alles, sie galten ihm sogar mehr als sein rechtes Horn. Er stieß also Habegehr immerzu mit seinem Horn in die Hüfte und drängte und zischelte: » Eile dich! Auf und fort! Suchen heißt's! Finden heißt's! Laß uns Bienenvölker auftreiben, laß uns Honig einheimsen, ein Kerbholz für hundert Striche anlegen!«

          Das sagte der Kobold, weil man zu jener Zeit soviel Kerben in Stäbe schnitt, als eines Menschen Besitztum wuchs.

          Willebold wieder wurde vom Horn seines Kobolds vor die Brust gestoßen und dieser Kobold strebte darnach, stärker als alle anderen und Herr und Herrscher über die Welt zu werden. Er trieb und stachelte daher Willebold an, junge Buchenstämmchen und schlanke Ahornbäumchen im Walde zu suchen, um Kampfwerkzeug und Kriegerwaffen aus ihnen zu fertigen. »Eile dich! Auf und fort! Suchen heißt's! Finden heißt's! Lanzen, Bogen und Pfeil, wie sie der Held begehrt, auf daß Furcht in Tiere und Menschen fährt«, zischelte dieser Kobold.

          Willebold und Habegehr gehorchten ihren Kobolden und schweiften waldaus, waldein, immer das Ziel im Auge, das die Kobolde ihnen gewiesen hatten.

          Sinnrich indes blieb an jenem Tag und noch drei weitere Tage bei Altvater Wisso, sann und sann aber immerzu: Was hat Jung Sunnubor mir gesagt? Denn Sinnrich wollte Altvater die Wahrheit sagen, doch konnte er sich auf die Wahrheit durchaus nicht besinnen.

          So ging ein Tag, gingen zwei, gingen drei dahin, am dritten aber sagte Sinnrich zu Altvater Wisso: Behüt' dich Gott, Altvater, ich zieh' ins Waldgebirg‘ und kehre nicht aber zurück, bis ich mich auf die Wahrheit besonnen habe, und sollten zehn Jahre darüber vergehen.«

          Wisso war ein alter Mann, dem in der Welt an nichts mehr lag als an seinem Enkel Sinnrich. Diesen liebte und hegte er wie ein verwelktes Blatt ein Tröpflein Tau. Darum fuhr er zusammen und Sagte: »Söhnchen, was soll mir die Wahrheit, da ich alter Graukopf wohl dreimal sterben kann, bis du dich ihrer entsinnst.«

          Er war aber noch betrübter in seinem Herzen, als er verraten wollte, bei dem Gedanken: »Kann es sein, daß dieses Kind mich verläßt?«

          Aber Sinnrich sagte:

          »lch gehe, Altvater, denn ich habe mir ausgedacht, daß es so recht ist.«

          Wissoo War weise. »Vielleicht«, dachte er, »ist mehr Weisheit in diesem Kinde als in meinem alten Kopf. Wenn sich aber der Arme an mir versündigt, so wird er es an sich selbst büßen müssen, denn er ist ein Gesegneter und ein Gerechter.« Bei diesem Gedanken wurde der Greis noch betrübter, doch sagte er nichts mehr, sondern küßte den Enkelsohn und ließ ihn ziehen, wohin dieser sich's vorgesetzt hatte.

          Sinnrich jedoch fühlte arges Herzweh Altvaters wegen und es fehlte nur ganz, ganz wenig, so hätte er sich an der Schwelle noch anders bedacht und wäre bei ihm geblieben. Doch er riß sich gewaltsam los und begab sich ins Waldgebirge, wie er es sich vorgesetzt hatte.

          Um die Zeit, als Sinnrich sich von Altvater Wisso trennte, hatte auch jener Kobold im Röhricht beschlossen, sich an seine mühsame Arbeit heranzumachen, und näherte sich der Rodung, um Sinnrich irgendwie zu überlisten.

          Sinnrich wanderte unterdessen gesenkten Hauptes gegen das Waldgebirge, doch schon bei dem ersten Felsblock an seinem Wege sprang vor ihm der Kobold auf.

          »Oh, den kenne ich«, dachte Sinnrich, »winzig, höckerig, schwarz wie ein Maulwurf und mit vielgezacktem Gehörn.«

          Der Kobold stellte sich Sinnrich in den Weg und ließ ihn nicht vorüber, Sinnrich ärgerte Sich über das kleine Scheusal, nahm einen Stein, schleuderte ihn auf den Kobold und traf ihn gerade zwischen die Hörner.

          »Den hab ich umgebracht«, dachte Sinnrich.

          Als er aber hinsah, war der Kobold heil und ganz, und dort, wo der Stein ihn getroffen hatte, wuchsen ihm noch zwei Hörnchen hervor.

          »Den vertreibt man mit Steinen nicht«, sagte Sinnrich zu Sich, umging den Kobold und setzte seinen Weg fort. Doch wieder sprang vor ihm der Kobold auf, hüpfte und hoppelte kreuz und quer, bald rechts, bald links, wie ein Hase vor Sinnrich her. So kamen sie an einen Höhenrain, der mit Steinen übersät war und zwischen Felswänden lag. An einem Ende desselben befand sich ein Brunnen.

          »Hier will ich bleiben«, sagte Sinnrich, und alsogleich breitete er seinen Schafpelz unter besinnen, was Sunnabor ihm gesagt hatte.

          Als dies der Kobold sah, setzte er sich gerade vor Sinnrich unter einen Busch und begann ihn zu behelligen und Possen zu treiben. Er ließ Eidechsen vor seinen Füßen aus, hetzte Heupferdchen an, ihm in den Armel zu springen, warf ihm Kletten aufs Hemd.

          So geht's quer, dachte Sinnrich, als dies eine Zeit gewährt hatte.- Da hab' ich den weisen Altvater verlassen, die eigenen Brüder, das eigene Heim, um schön in aller Ruhe der Wahrheit nachzusinnen, und jetzt verliere ich meine Zeit mit diesem vielhörnigen Taugenichts da.«

          Da er aber ehrlicher Arbeit wegen gekommen war, hielt er es für das richtigste, doch hierzubleiben.

 

3

 

          So lebten denn Sinnrich und der Kobold zusammen auf dem steinigen Höhenraine dahin und wie am ersten Tage, so alle Tage. Der Kobold verdarb und verhinderte Sinnrichs Arbeit.

          Kaum brach ein schöner Morgen an und Sinnrich erhob sich vom Schlafe und freute sich: »Ein stiller Tag, o Freude! Heute wird mir die Wahrheit einfallen!« da prasselt schon eine Handvoll wilder Apfel auf Sinnrich herab, daß ihm der Kopf nur so brummt und sich seine Gedanken verwirren. Das kleine Scheusal auf dem Baum aber kichert, schüttelt und krümmt sich vor Lachen. – Oder Sinnrich sitzt irgendwo im Schatten, so recht tief in seine Gedanken versunken. »Jetzt und jetzt«, dünkt es ihn, »muß mir die Wahrheit einfallen!« – Da hat in ebendem Augenblick der Kobold von weitem mit einer Holunderröhre auf ihn gezielt und ihn mit einem Schwall jenes kalten Wässerchens übergossen, so daß er gleich alles, woran er sich eben erinnert hat, aus dem Kopfe verliert.

          Und was es nur immer an Possen und törichtem Zeitvertreib gibt, bringt der Kobold auf jenem Höhenraine zuwege. Doch dies ginge noch an, hätte nur Sinnrich nicht nach und nach Gefallen daran gefunden. So eifrig er seiner Aufgabe oblag, so häufig wendeten sich seine Augen dem Getriebe des tollen Geschöpfchens zu.

          Das ward Sinnrich mit der Zeit doch zu arg, denn mehr und mehr quälte ihn schon der Wunsch, zum greisen Altvater zurückzukehren, und das sah er ein: Solange der Kobold in seiner Nähe blieb, würde er sich nie auf die Wahrheit besinnen.

          »lch muß mich von ihm befreien«, beschloß er endlich.

          Eines Morgens hatte der Kobold sich einen neuen Zeitvertreib ausgedacht. Er war auf die Spitze einer Felswand geklettert, an deren Gestein eine leere Wasserrille steil niederging, setzte sich rittlings auf ein glattes Klötzchen und fuhr wie der Blitz durch die Rille herab. Dieses Spiel behagte dem Kobold ungleich besser als alle anderen und er wünschte sich Gesellschaft dazu. Nahm also einen Grashalm und blies hinein, daß der Pfiff über Wände und Wälder flog; und sieh: aus Gebüsch und Gestein, aus Rohr und Schilf huschten und hüpften kleine Kobolde herbei, die dem ersten glichen. Dieser erteilte ihnen Befehle. Flugs raffte jeder der Kleinen ein Klötzchen auf und im Hui ging's damit auf die Wand. Hei, zu sehen, wie sie sich auf die Klötzchen setzten, die Rille herunterflogen! Und von jeder Art und jedem Stamm dieses Waldgezüchtes waren welche dabei: da gab es Rotkehlchenrote, Eidechsengrüne, solche, die wollig wie Lämmer ober nackt wie die Frösche waren, Gehörnte, die Schnecken, Ungehörnte, die Mäusen glichen. So ritten und glitten sie auf ihren Klötzchen die Rille herab wie ein tolles Heer auf toll gewordenen Pferdchen, fuhren und flogen über die Wand hernieder, immer einer dem andern auf den Fersen und im Genick, und hielten erst in der Mitte des steinigen Raines, wo ein großer, von Moos überwachsener Felsblock lag. Dort wurden sie am Moos aufgehalten und da der Schwung so gewaltig war, oder auch rein aus Mutwilligkeit, überschlugen sie sich und purzelten durcheinander.

          So läßt sich die närrische Sippschaft unter i-ho und Hu-hu zwei, dreimal durch die Rille herunter, und in Sinnrichs Kopf jagt ein Gedanke den andern. Zuschauen möchte er ihnen und über sie lachen, dann wieder ärgert er sich über den Heidenlärm. Wer könnte sich wohl dabei auf die Wahrheit besinnen! So schwankt Sinnrich denn hin und her, hin und her, endlich kommt er zu einem Entschluß: »Ei, jetzt hat das Lachen und Gaukeln ein Ende, von diesen Taugenichtsen muß ich mich befreien, denn neben ihnen ist mein Aufenthalt hier umsonst.«

          Sinnrich hatte bemerkt, daß die Klötzchen durch die Rille just auf den Brunnen zufuhren, und gäbe es jenen bemoosten Felsblock nicht, so stürzten die Kobolde kopfüber in den Brunnen. Sinnrich trat also zu jenem Felsblock, und als die Kobolde eben wieder auf ihren Klötzchen mit Hi-ho und Ha-ha die Wand herabsausen, da wälzt euch mein Sinnrich im Nu jenen Felsblock hinweg und das wilde Heer fährt geradewegs gegen den Brunnen. Gegen den Brunnen und in den Brunnen, Hals über Kopf, nacheinander und übereinander; die Rotkehlchenroten, die Eidechsengrünen, die wollig wie Lämmer, die nackt wie die Frösche waren, Gehörnte und Ungehörnte gleich Schnecke und Maus, allen voran aber jenes Kerlchen, das sichan Sinnrichs Fersen geheftet hatte. Rasch wälzte Sinnrich den Felsblock über den Brunnen und damit waren sie samt und sonders gefangen wie Fliegen in einem Topf.

          Froh war da Sinnrich, der Kobolde los zu sein. Nun setzte er sich zurecht, um in aller Ruhe den Augenblick abzuwarten, wo ihm die Wahrheit einfallen würde.

          Doch ach und weh! Im Brunnen begann es zu brodeln! Die Kobolde tobten und wüteten wie nie zuvor. – Aus allen Ritzen des Brunnens sprangen kleine Flämmchen, die jene in ihrer Pein auswarfen, züngelnd und zuckend umtanzten die Feuerchen jetzt den Brunnen und Sinnrich wurde es plötzlich ganz wirr im Kopf. Er schloß also die Augen, um jene Feuerchen nicht zu sehen.

          Da erhob sich aber im Brunnen solch ein Gekreisch und Geschrei, solch ein Piepsen und Pochen, Gequiek und Gezwill, solch ein Hämmern und Hilferufen, daß Sinnrichs Ohren schier zu zerspringen drohten. Wie hätte er da über etwas nachdenken können! Er verstopfte sich also die Ohren, um nichts zu hören.

          Jetzt aber begann aus den Brunnenritzen ein Dampf von Ruß und Schwefel herauszuschwitzen, den die Kobolde in ihrer Todesangst von sich gaben. Rul5-und Schwefelschwaden wanden sich um Sinnrich herum und fingen an ihn zu drücken und schier zu ersticken.

          Da sah Sinnrich ein, daß alles vergeblich war. »Eh, jetzt erkenne 1ch: Eingesperrte Kobolde sind hundertmal ärger als freie«, sagte Sinnrich. »Lassen wir sie also wieder aus, wenn wir sie nicht loswerden können! Ihre Possen ertrage ich doch noch leichter als ihr Hilfegeschrei. Damit ging er hin und hob den Stein ab. Die entsetzten Kobolde entsprangen hierhin und dorthin wie wilde Katzen und flüchteten: der in die Wälder, der ins Gebirg', und keiner ließ sich je wieder auf dem steinigen Höhenrain blicken.

          Nur einer blieb zurück, der mit dem vielgezackten Gehörn, der schwarz wie ein Maulwurf war; denn aus Angst vor Bissomar durfte er durchaus nicht von Sinnrich weichen.

          Aber auch er betrug sich seit jenem Tag etwas gesetzter und achtete Sinnrich en wenig mehr als bisher.

          Und so glichen die beiden sich leidlich aus, gewöhnten sich aneinander, lebten nebeneinander.

          Es war nun fast ein Jahr vorübergegangen und noch immer hatte Sinnricn sich nicht auf die Wahrheit besonnen. Was hatte doch Jung Sunnabor damals zu ihm gesagt Als das Jahr beinahe um war, fing der Kobold an die Geduld zu verlieren.

          Wie lange werd‘ ich hier so verweilen? dachte er. Darum begab er sich eines Abends, als Sinnrich gerade einschlafen wollte, zu diesem und sagte:

          »He, Taubchen, he! Was sitzest du schon fast ein Jahr über hier? Was soll dir das? Altvater daheim ist inzwischen vielleicht schon gestorben!«

          Da zuckt Sinnrichs Herz wie von einer Nadel gestochen– doch Sinnrich sagt: »So hab' ich es einmal beschlossen: Ich weiche nicht eher von hier, bis mir die Wahrheit einfällt, denn Wahrheit ist das Dringendste, sie geht über alles. « Sinnrich redete so, denn er war ein Begnadeter und ein Gerechter.

          Doch was der Kobold von Altvater Wisso gesagt, hatte Sinurich so tief getroffen, daß er die ganze Nacht nicht einschlafen konnte. Er rang mit sich und bangte und dachte immer daran, wie es seinem lieben Altvater ergehen mochte.

 

4

 

          Altvater Wisso lebte indessen auf seiner Rodung mit Habegehr und Willebold, doch das war für den Greis ein trauriges Leben geworden. Die Enkel kümmerten sich nicht um ihn, sorgten sich nicht um ihn. Wünschten ihm weder guten Tag noch gute Nacht, sondern gingen immerzu ihrer Arbeit nach und gehorchten - der eine dem Kobold in seiner Tasche, der andere dem Kobold an seiner Brust.

          Tag um Tag holte Habegehr neue Bienenvölker aus dem Walde heraus, hieb und hobelte Balken zurecht, baute und erbaute sich eine neue Hütte. Vor allem hatte er zehn Kerbhölzer ausgearbeitet und zählte und überzählte Tag um Tag, wann wohl die Kerbhölzer voll werden würden.

          Willebold wieder zog aus auf Jagd und Raub, trug Felle und Wild heim, schleppte Beute und Schätze herbei, und eines Tages brachte er zwei erbeutete Sklaven, die den ganzen Tag für beide Brüder arbeiten und sie bedienen mußten.

          Schwer und trübe ward es dem alten Wisso bei all dem zumute und unlieb und immer unlieber ward den Enkeln des Greises Anblick. Was sollte er ihnen, wenn er nicht zuließ, daß sie die alte, schadhafte Hütte niederrissen? Was sollte er ihnen, wenn er von den Sklaven nicht bedient werden wollte, sondern den Enkeln zur Schmach selbst Holz spaltete und Wasser vom Brunnen trug?– So kam es, daß alles, was an ihm war, die Enkel störte, auch, daß der Alte immer noch, tagaus, tagein, dem heiligen Feuer ein Holzscheit zulegte.

          Der alte Wisso merkte wohl, wohin das alles zielte und daß es ihm bald ans Leben gehen würde. Es tat ihm nicht leid um sein Leben; was sollte es ihm? Aber leid tat es ihm, wenn er sterben müßte, ohne sein begnadetes Kind, die Freude seines Alters, wiedergesehen zu haben. Eines Abends also- und es war dies gerade der Abend, an dem Sinnrich Altvaters wegen so mit sich rang sprach Habegehr zu Willebold: »Laß uns gehen, Bruder, und uns von dem Alten befreien. Du hast Waffen, erwarte ihn am Brunnen und bringe ihn um!« Das sagte Habegehr vor allem deshalb, weil er sich um jeden Preis die Hütte zueignen wollte, um an deren Stelle ein Bienenhaus zu errichten. Das kann ich nicht, Bruder«, erwiderte Willebold, dessen Herz durch Raub und Blutvergießen nicht so verhärtet war wie das Habegehrs durch Reichtum und Kerbholzzählung.

          Aber Habegehr ließ nicht nach, denn was ihm sein Kobold zuwisperte und einflüsterte, ließ ihm keine Ruhe. Der Kobold in Habegehrs Schultersack sah voraus, daß er als erster Wisso aus der Welt schaffen und so bei Bissomar hohes Lob ernten werde.

          So setzte denn Habegehr Willebold zu; der aber war nicht zu bewegen, den Alten mit eigener Hand umzubringen. Sie besprachen und einigten sich endlich dahin, noch am selben Abend die alte Hütte in Brand zu setzen. Sie sollte zu Asche werden und der Alte mit ihr.

          Als auf der Rodung alles still geworden war, schickten sie die Sklaven in den Wald, um dort gelegte Fallen zu überwachen. Die Brüder schlichen indes zu Wissos Hütte, verkeilten die Türe von außen mit einem schweren Keil, damit Altvater den Flammen ja nicht entkommen könne, und legten Feuer an allen vier Ecken an.

          Als alles fertig war, gingen sie weit ins Gebirge, um Altvaters Hilferufe nicht hören zu können. Sie nahmen sich vor, das ganze große Bergland zu umgehen und nicht vor Morgenanbruch zurückzukehren. Bis dahin war alles vorbei: Wisso und seine Hütte mußten verbrannt sein.

          Sie gingen also fort und das Feuer begann an den Ecken emporzuzüngeln. Die waren aber aus altem Nußholz und hart wie Stein, die Flamme leckte daran, beleckte es um und um, aber sie konnte es nicht ergreifen. Erst spät in der Nacht gelangte das Feuer aufs Dach.

          Der alte Wisso erwacht, schlägt die Augen auf, sieht: Das Dach brennt ihm über dem Kopf, steht auf und geht zur Tür. Als er sie mit einem schweren Keil verkeilt findet, weiß er gleich, wessen Anschlag das ist.

          »O meine Kinder, ihr Ärmsten!« sagte der Greis. » Dem Herzen entnehmt ihr's, auf Kerbhölzer setzt ihr's! Schaut hin: Noch find eure Kerbholzstäbe sticht voll, noch fehlt daran manche Zahl, die Herzen aber habt ihr schon bis zum Grund ausgeleert, da ihr euren Altvater und eure angestammte Hütte verbrennt.«

          Das dachte Wisso über Habegehr und Willebold und sonst dachte er ihrer mit keinem Gebanken mehr, noch betrübte er sich ihretwegen, sondern setzte sich auf eine Truhe, um so, friedvoll und gefaßt, den Tod zu erwarten.

          So saß er und überdachte sein langes Leben. Und nichts darin schien ihm schwer bis auf das eine, daß er Sinnrich, sein geliebtes Kind, das ihm so wehgetan, in seiner Sterbestunde nicht um sich hatte.

          Indes er so dachte, stand schon das ganze Dach in Flammen gleich einer Fackel.

          Schon brannten und verbrannten die Balken, schon begannen die Sparren des Daches zu krachen, brannten durch, zersprangen, und Balken und Sparren stürzten zu beiden Seiten des Alten in die Stube herein. Die Flamme umzingelte Wisso, legte das Dach über ihm frei; man sah, wie das Morgenrot bei Sonnenaufgang vom Himmel zu schwinden begann. Da richtete der alte Wisso sich auf, hob Hände und Augen zum Himmel empor und erwartete so, daß die Flamme ihn, den Greis, und seine alte Hütte aus der Welt fortnehmen werde.

 

5

 

          Es war die nämliche Nacht, in der Sinnrich so mit sich gerungen hatte, und als der Morgen Saufdämmerte, ging er zum Brunnen, um sein heißes Gesicht zu kühlen.

          Die Sonne trat eben über den Himmelsrand, als Sinnrich den Brunnen erreichte. Kaum ist er dort, so strahlt aus dem Brunnen ein Lichtglanz auf. Strahlt auf, steigt empor, und zu seiten des Brunnens steht ein wunderschöner Jüngling in goldenem Gewande vor Sinnrich: das war der Gott der Morgenröte, Jung Sunnabor.

          Vor Freude schrak Sinnrich zusammen.

          »Mein junger Gott Sunnabor, wie lange erwarte ich dich! Wiederhole mir Armem, was du mich damals zu tun geheilßen hast! Hier mühe und martere ich mich und rufe nun schon ein Jahr alle Weisheit zu Hilfe – und kann mich durchaus nicht auf die Wahrheit besinnen!«

          Als er so sprach, schüttelte Jung Sunnabor unmutig sein Haupt mit den goldenen Haaren.

          »Eh, Bürschchen, Bürschchen! Ich sagte dir: Bleibe bei deinem Altvater, bis du ihm Liebe um Liebe vergolten hast, und verlasse ihn nicht, eh er dich verläßt, « sprach Jung Sunnabor.

          Und er fügte hinzu:

          »Dich habe ich für den Klügsten unter euch Brüdern gehalten, und gerade du bist der größte Tor. Mühst und marterst dich und wendest Jahr und Tag Weisheit auf, damit dir die Wahrheit einfiele. Wärst du aber deinem Herzen gefolgt, als es dir an der Schwelle eurer Hütte gebot, umzukehren, den Altvater nicht zu verlassen: da, Unseliger, hättest du Wahrheit auch ohne Weisheit.«

          So sprach der junge Gott Sunnabor, schüttelte noch einmal unmutig das Haupt mit den goldenen Haaren, warf den goldenen Mantel um und verschwand.

          Beschämt und betroffen blieb Sinnrich allein am Brunnen, und hinter dem Felsblock kicherte jener Kobold, jener winzige, höckerige, mit dem vielgezackten Gehörn. Es belustigte diesen Possenreißer, daß Sinnrich, der Gerechte, von Sunnabor beschämt und getadelt worden war.

          Als Sinnrich aus seiner ersten Verwirrung zu sich kam, rief er voll Freude aus:

          »Eilen will ich, um mein Gesicht zu kühlen, dann aber fliege ich zu meinem lieben Alten.«

          Das sagte er und sprang zum Brunnen, sein Antlitz zu kühlen. Er beugte sich über den Brunnenrand, um Wasser zu schöpfen, beugte sich zu weit vor, glitt aus und fiel hinein.

          Fiel in den Brunnen hinein und ertrank.

 

6

 

          Der Kobold hüpfte hinter dem Felsblock hervor, schwang sich auf den Brunnenrand und guckte hinab, denn er wollte mit eigenen Augen sehen, ob sich das, was ihm Vorkam, auch wirklich ereignet hatte.

          Ja, ertrunken ist Sinnrich, dort liegt er, weiß wie Wachs, am Grunde des Wassers.

          »Oje oj! O du mein!« frohlockte der Kobold, der ein törichtes Kerlchen war. »Oje oj! O du mein! Jetzt bin ich Freiherr, Brüderlein!«

          Der Kobold frohlockte, daß es von allen Felsenwänden widerhallte. Und dann stemmte er Sich gegen den Stein, der am Brunnenrand lehnte, der Stein stürzte um und bedeckte den Brunnen gut. Und dann warf der Kobold noch Sinnrichs Schafpelz über den Stein, setzte obendrein noch sich selbst darauf und dann fing er an, auf dem Schafpelz herumzuspringen, herumzutanzen.

          »Oje oj! O du mein! Zu Ende ist der Arbeit Pein! « – Ein klein wenig tanzte er auf dem Schafpelz hin und her, ein klein wenig frohlockte und jubelte er.

          Als er müde geworden war, sah er sich auf dem steinigen Höhenrain um – und es wurde ihm seltsam zumute.

          An Sinnrich hatte er sich gewöhnt und nie hatte der Kobold noch ein so leichtes Leben gehabt wie neben diesem Gerechten. Neben ihm hatte er nach Herzenslust Possen getrieben, der hatte ihn nie gehindert, ihm nichts befohlen. Und jetzt, bedenkt er's recht, muß er ins Röhricht zurück, in jenen Morast, zu Bissomar – Bissomar, böser Zar und unter hundert Kobolde, lauter kleine Kampfhähne, wie er selbst einer ist.

          Davon hatte er sich entwöhnt. Er dachte nach, dachte ein wenig, wurde bekümmert, zuerst nur ein wenig bekümmert- dann mehr und mehr. Und da – kehr um die Hand – seht mir das törichte, kopflose Kerlchen an, das einen Augenblick vorher aus Freude frohlockt hat: zu plärren beginnt es, zu röhren beginnt es und wälzt sich vor grimmigem Leid auf dem Schafpelz herum.

          Röhrt also der Kobold und windet sich; wie er früher frohlockt hat, ist nichts im Vergleich hiezu. Kobold ist Kobold: röhrt er, so röhrt er eben- und immerzu rupft er Haare aus jenem Schafpelz und wälzt sich darauf herum wie ein Verrückter.

          In diesem Augenblick langten Willebold und Habegehr auf dem steinigen Höhenrain an.

          Sie hatten das ganze Bergland umgangen und kehrten jetzt zu der Rodung zurück, um zu sehen, ob Altvater glücklich mit seiner Hütte verbrannt sei. So kamen sie auf dem Heimweg zu jenem Höhenrain, wo Sie noch niemals gewesen waren.

          Willebold und Habegehr hören ein Wehgeschrel, werden Sinnrichs Schafpelz gewahr und denken gleich, Sinnrich sei irgendwie ums Leben gekommen.

          Es tat ihnen aber nicht um den Bruder leid, denn sie konnten um niemanden Leid empfinden, solange sie ihre Kobolde bei sich trugen.

          Indes begannen die Kobolde unruhig zu werden, da das Wehgeschrei ihres Gefährten zu ihnen drang. Und man muß wissen, daß es nirgendwo ein einiger Volk oder treuere Kameraden im Unglück gab, als es diese Kobolde waren. Im Röhricht balgten sie sich herum und lagen sich in den Haaren, drohte aber Gefahr, so setzte einer für den andern sein Leben ein.

          Jene gerieten also in Aufruhr, rutschten hin und her, spitzten die Ohren, und dann guckte der dort aus dem Schultersack, der da unterm Hemdlatz hervor. Und was gewahren sie? Ihr Brüderchen wehklagt und röhrt, balgt sich mit jemand herum, man sieht's, wie die Haare stieben.

          »Ein schreckliches Untier zerreißt ihn!« entsetzten sich die Kobolde, sprangen aus Schultersack und Hemdlatz hervor und stürzten zu ihrem Gefährten.

          Wie sie zu ihm kommen, wirft und windet sich der auf dem Schafpelz hin und her und schreit immerzu:

          »Der Bursche ist hin! Der Bursche ist hin! « Die Kobolde reden ihm gütlich zu. Er hat einen Dorn im Fuß oder ein Mücklein im Ohr, denke: sie, denn sie haben nicht neben jenem Gerechten gelebt und kennen kein ander Ding, um das man wehklagen könnte.

          Jener aber röhrt immerfort und du verstehst neben ihm dein eigenes Wort nicht, noch vermagst du ihn zu beruhigen.

          Die beiden Kobolde wissen nicht aus noch ein. Und im Unglück können sie ihn nicht verlassen. In ihrer Angst erdenken sie endlich etwas. Jeder packt einen Schafpelzärmel und so schleppen sie beide den Pelz und auf dem Pelz den Gefährten fort, traben mit ihm in den Wald und aus dem Walde ins Röhricht zu Bissomar.

          Und so blieben Willebold und Habegehr das erstemal seit Jahresfrist ohne ihre Kobolde. Als die Kobolde von ihnen absprangen, war es den Brüdern im selben Augenblick, als seien sie Jahr und Tag blind durch die Welt gegangen und hätten mit einemmal hier auf der Bergeshöhe zu sehen begonnen.

          Wie von Sinnen blickten die beiden einander an, blickten einander an, da sie sogleich erkannten, welche Greueltat sie an Altvater begangen hatten.

          »Bruder, Blutsfreund!« rief einer dem an , »lalß uns eilen, Altvater zu retten!«

          Und sie flogen, als hättet sie Falkenflügel, zur Rodung hinab.

          Nun langten sie an. – Die Hütte ist ohne Dach, eine Flammensäule loht aus der Stube. Nur die Wände stehen noch und die mit schwerem Keile verrammelte Tür.

          Die Brüder eilen herbei, schlagen den Keil aus, dringen in die Stube und tragen auf ihren Armen den Greis aus den Flammen, die gerade schon seine Füße ergriffen hatten.

          Willebold und Habegehr trugen Altvater heraus, legten ihn auf den Rasen und stellten sich neben ihn, wagten es aber nicht, ein Wort an ihn zu richten.

          Nach einer kleinen Weile schlug der Greis die Augen auf und als er sie erblickte, sagte er nichts zu ihnen, sondern fragte nur:

          »Habt ihr irgendwo im Gebirge Sinnrich gefunden?«

          »Nein, Altvater«, erwiderten die Brüder und wagten es nicht, Altvater in die Augen zu sehen. »Umgekommen ist Sinnrich, heute morgen im Brunnen ertrunken. Aber uns, Altvater, verzeih, wir werden dir dienen wie Sklaven und für dich sorgen.«

          Als jene so sprachen, richtete Wisso sich empor und stand auf.

          »Euch, Kinder, ist verziehen, das sehe ich, denn ihr seid am Leben geblieben. Aber jener, der Gerechteste unter euch, hat seine Schuld mit dem Leben bezahlen müssen. Auf, Kinder, führt mich, damit ich sehe, wo er umgekommen ist.

          Demütig gehorchten Habegehr und Willebold, stützten den Altvater unter den Armen und führten ihn waldeinwärts gegen Sinnrichs Höhenrain hin. Kaum hatten sie ein Stück Weges zurückgelegt, so gewahrten sie, daß sie irregingen, hier waren sie nie gewesen. Sie sagten das, doch Altvater Wisso hieß sie diesen Weg verfolgen.

          So gelangen sie zu einer steilen Höhe und dort hinauf führte der Weg zu einer Felsenzinne empor.

          »Altvater, schwach wie er ist, wird uns sterben auf diesem Steilweg«, flüsterten die Bruder.

          Doch der alte Wisso sagte: » Immer zu, Kinder, dem Wege nach!«

          Und so begannen sie den Weg zu jener Zinne emporzuklimmen. Immer fahler und bleicher wurde das Antlitz des Alten, indes von oben, von jener Felsenzinne, ein Funkeln und Leuchten, ein liebliches Sausen und Brausen zu ihnen drang.

          Als sie auf die Zinne gelangten, verstummten, erstarrten sie vor Ehrfurcht und Bewunderung.

          Unter ihnen nicht Berg noch Tal, weder Höhen noch Ebenen, nichts als eine Wolke, weiß wie ein weißes Meer. Ein weißes Meer und auf ihm ein rosiges Wölkchen. Auf dem rosigen Völkchen ein gläserner Berg, auf dem Berg eine goldene Burg und zu dieser Burg führt eine breite, schimmernde Treppe.

          Das war Jung Sunnabors goldene Burg. Von der Burg ging ein liebliches Leuchten aus: aus der rosigen Wolke drang es, aus dem gläsernen Berg, aus all dem lauteren Gold, am stärksten aber und hellsten aus den Fenstern des Saales. Denn dort sitzen Jung Sunnabors Gäste beisammen und trinken aus goldenen Bechern dem Ankömmling Heil und Genesung zu. Doch Sunnabor ladet niemand zu Gaste, läßt niemand in den Saal, der eine Schuld auf der Seele trägt, darum war im Saal eine edle und auserwählte Gesellschaft versammelt und von ihr kam jener Lichtglanz, der aus den Fenstern drang.

          Auf der Felsenzinne steht Altvater Wisso mit seinen Enkelsöhnen. Sie sind verstummt und schauen nur auf dieses Wunder hin, schauen-und nehmen auf einmal wahr, daß jemand auf jenen Stufen sitzt, die zur Burg hinanführen. Der dort sitzt, hat sein Angesicht in den Händen verborgen und weint.

          Der Greis sieht schärfer zu und erkennt, daß es Sinnrich ist.

          Des Greises Seele erzittert, er richtet sich auf und ruft über die Wolken hin:

          »Was ist dir, mein Kind?«

          »Aus dem Brunnen, Altvater, hat mich ein großer Lichtglanz emporgehoben und hiehergebracht. Bis hieher kam ich, doch in die Burg läßt man mich nicht ein, weil ich mich an dir versündigt habe«, erwiderte Sinnrich.

          Tränen ergossen sich da über Altvaters Antlitz. Mit Herz und Händen strebt er hinüber, um sein geliebtes Kind, seinen begnadeten Sohn zu umarmen, zu trösten und ihm zur Seite zu stehen.

          Habegehr und Willebold blickten den Altvater an, dessen Antlitz aber war ganz verändert; fahl und verfallen, glich es nicht mehr dem eines Lebendigen.

          »Der Alte wird uns sterben vor diesem Schrecknis«, flüsterten sie einander zu.

          Doch der Alte hatte sich hoch aufgerichtet und schon von ihnen entfernt; nun wendete er sich ihnen zu und sagte:

          »Geht, ihr Kinder, kehrt auf die Rodung zurück, und da euch verziehen ist, lebt und genießt in Gerechtigkeit, was euch bestimmt wurde. lch aber gehe, um dem zu helfen, dem das Beste gegeben ward auf dem schwersten Wege und um den höchsten Preis.«

          Des Greises Stimme war schwindend leise geworden, doch er stand vor ihnen aufrecht wie eine Säule.

          Willebold und Habegehr sahen einander an. Der Alte redete irre, als wolle er über die Wolken gehen, und hatte doch kaum soviel Atem, um reden zu können.

          Schon aber hatte der Greis sich von ihnen getrennt. Er ging, schritt über das weiße Wolkenmeer, als wär's ein Rasenplatz. Schritt und schritt, die Füße trugen ihn, als ob er ein Federchen ware, sein Kleid weht im Winde, als wäre es eine Wolke in jener Wolke. So bis zur rosigen Wolke hin, so bis Zum Glasberg, so bis zu der breiten, schimmernden Treppe. Der Greis eilt die Stufen bis zu seinem Enkel hinan. Oh, über die Freude, mit der Altvater den Enkel umarmt! Er umarmt ihn, hält ihn umschlungen, als wolle er nie von ihm lassen. Und Habegier und Willebold hören zu: man hört es über die Wolken herüber, das Schluchzen des Glücks, das aus des Alten Brust und der seines Kindes bricht.

          Dann faßt der Greis den Enkelsohn an der Hand und führt ihn über die Stufen bis zur Pforte der Burg. Mit der Linken führt er das Enikelkiad, t der Rechten pocht er an die Pforte.

          Und seht das Wunder! Weit tut sich die Pforte auf, zeigt die ganze innere Herrlichkeit des Saales und die Geladenen und edlen Gäste empfangen unter der Pforte den alten Wisso und sein Enkelkind.

          Die Hände reichen sie ihnen entgegen, empfangen sie und führen sie in die Burg.

          Noch sahen Habegehr und Willebold sie am Fenster vorübergehen und sich an die Tafel setzen: als ersten unter den ersten Altvater Wisso und Sinnrich neben ihm, und dort begrüßt der goldene Jüngling Sunnabor mit goldenem Kelche die Gäste.

          Willebold und Habegchr, die sich nun allein so abgründigem Schrecknis gegenüber sahen, wurden von einem Schauer der Ehrfurcht erfaßt.

          »Kehren wir, Bruder, auf unsere Rodung zurück«, flüsterte Habegehr. Und sie kehrten um. Von dem  großen Wunder betäubt, kamen sie auf ihrer Rodung an, doch nie mehr konnten sie jenen Weg. nie mehr jene Felsenzinne am Berge finden.

 

7

 

          So war's und so endete es.

          Habegehr und Willebold lebten auf ihrer Rodung, Lebten ein langes Leben als tüchtige Burschen und Männer, zogen ein ehrbar Geschlecht heran, Söhne und Enkelkinder. Vom Vater übertrug alles Gute sich auf den Sohn, auch das heilige Feuer, dem Tag um Tag ein Holzscheit  zugelegt wurde, auf daß es niemals verlösche.

          Seht, mit Recht hatte Bissomar sich vor Sinnrich gefürchtet. Wäre Sinnrich nicht umgekommen, als er die Wahrheit suchte, so hätten die Kobolde Willebold und Habegehr nicht verlassen, so gäbe es auf der Rodung kein heiliges Feuer und keine rechtschaffenen Menschen mehr!

          So ging alles zum Schaden und zur Schande Bissomars und seiner Hcerscharen aus.

          Als jene zwei Kobolde Sinnrichs Schafpelz vor Bissomar hingezerrt hatten und auf dem Schafpelz jenen dritten Gesellen, der noch immer röhrte, als ob er von Sinnen wäre, geriet Bissomar in furchtbare Wut, denn nun war es ihm klar, daß ihm alle drei Burschen entkommen waren. Aus lauter Grimm ließ er allen drei Kobolden die Hörnchen stutzen, so daß sie, allem Volke zum Spott, nunmehr ihr Leben lang mit gestutzten Hörnchen umherlaufen mußten.
Aber die ärgste Schmach blieb doch auf Bissomar haften. Denn hört, jeden Tag reizt der heilige Rauch ihn zum Husten und aus seinem Wald darf er auch nie heraus, er könnte sonst einem rechtschaffenen Menschenkinde begegnen.

          Nichts also blieb Bissomar von alledem als Sinnrichs leerer Schafpelz. Und den gönnen wir ihm, denn Sinnrich braucht ja doch keinen Schafpelz mehr in Jung Sunnabors goldenem Saale.