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Jagor

Ivana Brlić-Mažuranić

autor

zbirka

Aus Urvaterzeiten - Marchen aus kroatischer Urzeit

godina

1999.

jezik

njemački

jezik izvornika

hrvatski

medij

tiskani tekst

prevoditeljica

Camilla Luzerna

ilustrator

Vladimir Kirin

sken

ilustracije

priča

1.

 

          War da einmal ein Kind — noch zart und klein, als ihm die Mutter starb — bei einer bösen und tückischen Stiefmutter zurückgeblieben. Erbarmungslos wie das böse Jahr plagte diese den kleinen Jagor mit Frost und schmaler Kost und hatte auch Jagors Vater mit allerlei Kraut behext, so daß er sich um sein Söhnchen nicht kümmern mochte.

          Jagor duldete, litt, aber einem so kleinen Knaben wird eines Tages das Herzchen doch allzu schwer. Das arme Kind ging in den Stall, warf sich mit dem Gesichte ins Stroh und weinte bitterlich. »Was soll ich, wohin soll ich?« klagte der Kleine. Da hört er, wie etwas sich durch das Stroh bewegt, als wär's eine Maus. Es schleicht bis an sein Ohr und jetzt wispert es: »Weine nicht, Jagorkind. Sorge du dich um nichts. Sind unser drei hier. Wir werden dir an die Hand gehen.«

          Jagor hob den Kopf und sah sich im Stalle um. Aber alles im Stall ist wie sonst, an der Krippe sind nur Rillhörnchen, die kleine Kuh, und Rotbärtchen, die kleine Ziege, gebunden, die noch von Jagors Mutter aufgezogen, liebkost und betreut worden waren. Sonst ist niemand da.

          »Hast du das zu mir gesagt?« fragt Jagor die kleine Kuh.

          »Ich nicht«, antwortet diese.

          »Warst du es?« fragt er die kleine Ziege.

          »Ich auch nicht«, erwidert sie.

          »Wer ist's und warum heißt es, ihr wäret zu dreien, wenn nur euer zwei hier sind?«

          »Das hat dir Bagan ...

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Jagor

Ivana Brlić-Mažuranić

1.

 

          War da einmal ein Kind — noch zart und klein, als ihm die Mutter starb — bei einer bösen und tückischen Stiefmutter zurückgeblieben. Erbarmungslos wie das böse Jahr plagte diese den kleinen Jagor mit Frost und schmaler Kost und hatte auch Jagors Vater mit allerlei Kraut behext, so daß er sich um sein Söhnchen nicht kümmern mochte.

          Jagor duldete, litt, aber einem so kleinen Knaben wird eines Tages das Herzchen doch allzu schwer. Das arme Kind ging in den Stall, warf sich mit dem Gesichte ins Stroh und weinte bitterlich. »Was soll ich, wohin soll ich?« klagte der Kleine. Da hört er, wie etwas sich durch das Stroh bewegt, als wär's eine Maus. Es schleicht bis an sein Ohr und jetzt wispert es: »Weine nicht, Jagorkind. Sorge du dich um nichts. Sind unser drei hier. Wir werden dir an die Hand gehen.«

          Jagor hob den Kopf und sah sich im Stalle um. Aber alles im Stall ist wie sonst, an der Krippe sind nur Rillhörnchen, die kleine Kuh, und Rotbärtchen, die kleine Ziege, gebunden, die noch von Jagors Mutter aufgezogen, liebkost und betreut worden waren. Sonst ist niemand da.

          »Hast du das zu mir gesagt?« fragt Jagor die kleine Kuh.

          »Ich nicht«, antwortet diese.

          »Warst du es?« fragt er die kleine Ziege.

          »Ich auch nicht«, erwidert sie.

          »Wer ist's und warum heißt es, ihr wäret zu dreien, wenn nur euer zwei hier sind?«

          »Das hat dir Bagan gesagt, der ist mit uns der dritte im Stall, er ist auch älter als wir«, versetzte die kleine Kuh.

          »Doch wo steckt er?«

          »Dort in der Weizengarbe.«

          »Wo hätte er hier im Stall eine Weizengarbe?«

          »In der rechten Stallecke oben, eingeflochten ins Fleichtwerk unterm Wandbewurf«, gab Rillhörnchen Auskunft.

          »Seit wann ist er dort?« verwunderte sich das Kind.

          »Seit fünfzig Jahren.«

          »Wer hat ihn dorthin gesetzt?«

          »Dein Großvater, als er diesen Stall flocht und errichtete.«

          »Warum hat mein Großvater denn eine Weizengarbe ins Flechtwerk geflochten?«

          »Er wollte Bagan anlocken. Und so wie Bagan sich damals dort festgesetzt hat, so hütet er bis zum heutigen Tage das Vieh im Stall und alle Habe in Hütte und Scheune, und nichts auf euerem Gute trägt sich ohne ihn zu.«

          Während dieser Rede sah sich Jagor im Stalle um und es wurde ihm warm ums Herz, Großvaters wegen und Bagans wegen und wegen der Weizengarbe im Flechtwerk.

          Die kleine Kuh aber fuhr in ihrer Rede fort:

          »Willst du auf mich hören, so mache ein Kripplein zurecht, nicht größer als handbreit und daumenhoch. Stelle es unter unsere Raufe, doch so, daß es niemand bemerkt. Schüttest du abends uns Futter vor, so tu eine Handvoll davon auch für Bagan ins Kripplein, und streust du uns Stroh auf, so tu es auch ihm. Tu so und fürchte dich nicht.«

          Jagor tat, wie Rillhörnchen es ihn geheißen hatte, er machte ein Kripplein zurecht, stellte es auf, schüttete Futter für Bagan auf und Streu für die Lagerstatt. Von diesem Tage an fand das Kind Schutz und Schirm in dem kleinen Stalle. Dort nächtigte es, dort suchte es Zuflucht.

          Und Rillhörnchen, Rotbärtchen und Bagan hielten auch, was sie versprochen hatten. Bläst nachts der Wind, so häuft Bagan Heu in allen Ecken an, auf daß der Kleine es warm in seinem Ställchen habe, und wenn morgens die Stiefmutter kommt, um Kuh und Ziege zu melken, geben die nicht die ganze -Milch her, die Hälfte nur; die andere Hälfte behalten sie auf für Jagor.

          Und Jagor beginnt zu wachsen wie ein Tännlein am Berge. Alle Welt wundert sich, wie das Kind bei dieser Stiefmutter so schön gedeihen kann. Die aber verzehrt sich vor Arger, weil sie sieht, daß sie ihm nicht zu schaden vermag.

          Sie sinnt und sinnt Tag und Nacht, sinnt so lange, bis sie etwas ersonnen hat. Und als sich eines Tages der Mann aufmacht, um Farnkräuter zur Streu abzumähen, sagt sie ihm: »Nimm, Freundchen, dein Mittagsbrot nicht mit dir. Ich schicke es durch das Kind.«

          Der Mann gehorcht, nimmt nur die Sense und macht sich auf den Weg nach dem Farnkrautgrund.

          Als es gegen Mittag ging, kochte das Weib einen Topf Brei, buk ein Brötchen, tat beides in einen Korb und sagte zu Jagor: »Hier das Körbchen. Bringe Vater das Mittagsbrot.«

          Jagor machte sich auf den Weg und die Stiefmutter trat an das aus Ruten geflochtene Gattertürchen, um ihm nachzublicken. Sie wußte, was seiner harrte und wer auf ihn lauerte in dieser Mittagsglut.

          Vom Himmel herab glüht die Glut, Gräschen schmiegt sich unter Gräschen und alles, was atmet, hat unter Busch und Dorn Schutz vor der Sonne gesucht. Nur Jagor wandert über die Wiesen hin — nirgends ein Ränftlein Schatten, wie ein golden Wässerlein zittert die Luft vor seinen Augen.

          Jenseits des Zaunes und des geflochtenen Gattertürchens, das Jagor hinter sich ließ, kauerte in den Brennesseln über ihrem Dachsbau die Mittagshexe. Mittagshexe heißt sie, weil sie nur um die Mittagszeit ihren Bau verläßt und darauf lauert, wem sie mit den Brennesseln Hiebe versetzen könne.

          Kaum gewahrt die Alte das Kind, da reißt sie auch schon eine Brennessel ab und jagt ihm nach. Sie wirft keinen Schatten, du hörst keinen Schritt; auf dem Steig im Roggenfeld, das im heißesten Sonnenbrand liegt, holt sie Jagor ein und versetzt ihm mit der Nessel einen Hieb ins Genick. Kaum sitzt der Hieb, so nachtet es ihm vor den Augen; das Kind bricht am Steige zusammen und weiß nichts mehr von sich.

          Die Hexe faßt den Topf: mit einem Zug hat sie den ganzen Brei hinabgeschlürft; sie greift zum Brot: auf einem Happ hat sie den ganzen Laib verschlungen. Dann wirft sie den Kleinen über die Schulter wie einen Sack und zieht ihn in ihren Dachsbau hinunter.

          Von der Gattertür aus hat die Stiefmutter alles mit angesehen, reibt sich die Hände und sagt:

          »Gut so. Der kehrt nicht zurück.«

          Die Mittagshexe aber zieht Jagor so, wie sie ihn unter die Erde gezogen, durch einen finsteren Stollen bis an einen Ort, in den von irgendher eine furchtbare Gluthitze einströmt. Da bleibt die Alte stehen, faucht den Kleinen an und der erwacht.

          Die Alte nimmt Jagor nun an der Hand, führt ihn mit sich fort und gleich gelangen sie in einen unterirdischen Raum, der groß wie eine ungeheure Tenne ist, darüber wölbt eine Decke sich aus gebranntem Ton, die wie ein riesiger Brotlaibdeckel aussieht. Zwölf Backöfen reihen sich um die Tenne herum, sechs derselben sind rot, aus diesen loht rotes Feuer, aus den anderen, die gelb sind, schlagen gelbe Flammen hervor. Ganz zerstampft ist die Tenne, so viel Dienerschaft ist um die Öfen herum geschäftig. In den roten Ofen werden Hammel gebraten, in den gelben bräunen sich Brote: all das für eine einzige Mahlzeit der Mittagshexe.

          In dieser Hitze könnte kein Lebender Atem holen, ihm müßte die Kehle verbrennen. Den kleinen Jagor aber hatte die Alte angefaucht, und so vermochte ihm diese Glut nicht zu schaden.

          »Uhú«, ruft Jagor aus, als er vor diesem Wunder steht.

          »Fürchte dich nicht!« beruhigt ihn die Mittagshexe.

          »Ich fürchte mich nicht, es wundert mich nur, wie groß das alles ist. So ein Backofen ist ja größer als meine Hütte zusamt dem Stall.«

          Da lacht die Mittagshexe, ihre Nase senkt sich dabei, das Kinn steigt ganz zur Nase hinauf, der Mund fällt ein.

          Sie führt das Kind über die Tenne und wieder durch einen Stollen, und so kommen sie in einen unterirdischen Raum, der so groß wie eine riesige Hürde ist, und darüber liegt ein Gewölbe aus roter Erde. In der Hürde drängen Schafe sich aneinander, alle mit roter Wolle bedeckt und ihrer jedes ist so groß wie das größte Kind.

          »Uhú«, sagt Jagor, als er die Schafungetüme erblickt.

          »Fürchte dich nicht«, antwortet die Mittagshexe.

          »Ich fürchte mich nicht, sondern es wundert mich nur, wie groß diese Schafe sind. Solch ein Schaf ist ja größer als meine Kuh und meine Ziege zusammen.«

          Wieder lacht die Mittagshexe und sieht dabei noch einmal so häßlich aus. Sie führt das Kind durch die Hürde und läßt die Schafe heraus. Diese drängen sich in einen dritten Stollen, der — stets unter der Erde — nach aufwärts führt, und ihnen folgt das alte Weib mit dem Kinde. Lange ging es so durch den Stollen — endlich kamen sie durch eine zweite Offnung aus dem Dachsbau heraus. Da befanden sie sich auf der Höhe eines kahlen Gebirges mitten in einem ungeheueren steinigen Feld. An zwei Seiten des Feldes erhoben sich Felswände, die zwei anderen waren durch eherne Schranken versperrt, so daß es aus diesem Steingefild weder Aus— noch Eingang gab, bis auf den Schacht zum unterirdischen Baue der Mittagshexe.

          Umschlossen wie ein Kesseltal liegt dieses Feld und ist von einer mächtig großen Pflanzenart überwachsen, jedes Blatt drei guten Ackerbeeten vergleichbar und jedes schillert wie Kupfer im Sonnenschein. Die Sonne hat Steine und Pflanzen durchglüht. So groß ist die Hitze in diesem Kesseltal, daß ein lebendiger Christ darin gar nicht zu atmen vermöchte, ohne daß seine Kehle verdorrte. Aber das Kind fühlte auch diese schreckliche Bruthitze nicht, sondern rief nur in heller Verwunderung:

          »Uhú.«

          »Fürchte dich nicht!« beruhigte die Mittagshexe.

          »Ich fürchte mich nicht, es wundert mich nur, wie groß das alles ist; größer ist ja solch ein Blatt als mein Feld und mein Gärtlein zusammen.«

          Wieder lachte die Mittagshexe, und nun sah sie so greulich aus, daß es Greulicheres unter der Sonne nicht geben konnte.

          »Du taugst mir, Bürschchen«, sagte hierauf das Weib. »Ich brauche einen Hirten, und du wirst mein Hirte sein. Setze dich hieher und hüte meine Herde. Sei aber achtsam im Dienst, wie sich's gehört; wehe dir, wenn es Schaden gibt.«

          So sprach das Weib und verschwand wieder im Dachsbau. Und das Kind blieb allein in diesem ungeheuren, von Fels und Erz umschlossenen Kesseltal. Die Schafungetüme hatten sich über das Feld verstreut. Sie senkten die Häupter und weideten jene Pflanzen ab, und während sie an solch einem riesigen Blatte, das wie Kupfer schillerte, kauten, sprühten Flämmlein um ihre Köpfe.

          Das Kind setzte sich auf einen Stein unter der hohen, ehernen Schranke und verschaute sich in all dieses Unwesen und Ungemach. Alles, was es erblickt hatte, lastete so schwer auf seinem Seelchen, daß es nicht einmal zu weinen vermochte. Nur ein und derselbe Gedanke ging ihm im Kopfe herum: Wie klein und lieblich doch all das Seinige sei, worum die Stiefmutter es gebracht hatte, wie groß und furchtbar hingegen das Übel, das sie für ihn ausgedacht.

 

2.

 

          Als der Vater abends von der Streumahd nach Hause ging, fand er im Roggen das Körbchen mit dem Topf und Jagors Taschentüchlein. Heimgekommen, traf er die Frau im Stall, wo sie die Kuh molk.

          »Guten Abend, Liebe! Wo blieb mein Mittagsbrot? Was ist aus Jagor geworden?«

          »Was weiß ich, Teurer? Taugt der Sohn nicht so viel, daß er dir das Essen bringt, so darf dir um ihn nicht leid sein. Werden weniger Brot brauchen ohne ihn.«

          »Hast recht«, erwiderte der Mann, und sie begaben sich in die Hütte, um zu Abend zu essen.

          Nach der Mahlzeit zeigte die Frau dem Manne das Brotstück, das übriggeblieben war.

          Der Mann besah es, doch er wurde des Brotes nicht froh.

          Als das Weib sich zur Ruhe legte, ging er in den Stall, um das Vieh zu versorgen. Wie er so allein war unter dem Vieh, wurde ihm bei seiner Arbeit schwer und schwerer zumute. Rillhörnchen und Rotbärtchen schauten ihn an und aus ihren Blicken begann ihm etwas ins Herz zu dringen. Wieder und wieder mußte er an das übriggebliebene Brotstück denken.

          Er setzte sich auf die Schwelle des Stalles und sah in die Nacht hinaus. Draußen schien der Mond, im Mondlicht sahen Hütte und Stall wie zwei Fäustchen, Feld und Hof wie zwei Handteller aus. Alles von Flechtwerk umflochten. Das Feld in drei Beete geteilt, bepflanzt alle drei.

          »Übers Jahr brauch' ich das dritte Beet gar nicht zu pflügen«, denkt der Mann, denn wieder fällt ihm ein, daß er jetzt weniger Brot nötig habe. Doch zugleich wird ihm klar, daß er ohne das dritte Beet auch die zwei anderen nie umackern werde. Der Pflug von Holz, Rillhörnchen schwach, die Erde hart. Wohnt dir kleine Freude im Herzen, so magst du dich an dieser Erde zu Tode ackern, aber umackern wirst du sie nicht.

          »Väter und Großväter, aus Freude ackerten sie. Der Vater stets für den Sohn. Und ich Sünder brachte den Sohn um, habe die Freude getötet in mir und der Erde.«

          Kaum dachte er dies, als aus dem Türstock neben ihm etwas zu wispern begann. Ist's kein Heimchen, so muß es irgendein Wunder sein.

          »Geh, Unseliger, suche den Sohn«, sagte jene Stimme zu ihm. »Er ist im Dachsbau der Mittagshexe. Geh den Flechtzaun entlang, nimm aber den Topf aus dem Körbchen mit dir, gieße Wasser hinein. Gehst du in den Dachsbau ein, so verfolge den Schacht, und wie du fühlst, daß von irgendwoher eine große Glut dir entgegenschlägt, trinke Wasser aus jenem Topf und dir wird nichts geschehen, weil das Weib vor dir daraus getrunken hat. So wirst du kräftig sein und den Sohn befreien.«

          Sogleich stand der Mann auf, goß Wasser in jenes Töpfchen und ging den Flechtzaun entlang. Als er den Dachsbau fand, kroch er hinein und verfolgte den Stollen, bis er zu jener Tenne unter der Erde gelangte, von wo jene schreckliche Hitze ausströmte. Auch jene zwölf Backöfen erblickte der Mann und bei ihnen Knechte, die sich wie Teufel um die Flammen bewegten. Und inmitten der Tenne sieht er jetzt den Sohn, der sich in dieser Höllenglut mit den roten Schafungetümen herumzerrt.

          Da vergißt der Vater — er ist wie vernichtet vor Leid —, sich mit Wasser aus jenem Töpfchen zu laben, ja tut, den Sohn zu rufen, sogar den Mund auf.

          Kaum hat er ihn aufgetan, so hat jener heiße Hauch ihm auch schon die Kehle verbrannt. Der Mann greift an seinen Hals, sagt reuevoll zu sich im stillen: »Hab's nicht anders verdient«, kommt um wie ein Maulwurf im Loch und geht mit versöhnter Seele vor Gottes Gericht. Als die Stiefmutter gewahrte, daß ihr Mann nicht da war, trat sie aus der Kammer und rief ihn, und da keine Antwort kam, ging sie vors Haus und hielt ein wenig Umschau, und als sie ihn nicht fand, wartete sie bis zum Abend. Als er auch bis zum Abend nicht wiederkam, stellte die Stiefmutter sich in die Mitte des Hofes, sah sich rundum alles an, rieb die Hände und sagte:

          »Gut so. Gestern noch war's das Ihre, jetzt ist es mein.«

          Sprach's, ging ins Haus, schob den Riegel vor die Tür, nahm aus der Truhe das Linnen, das Jagors Mutter ihm hinterlassen hatte, steckte ein Licht an und begann daraus Hemd und Rock für sich zurechtzuschneiden. Aber im Stall ließen Rillhörnchen und Rotbärtchen bekümmert die Köpfe hängen. An diesem Abend rührten beide kein Hälmchen an. Sie mochten nicht essen. Und als es Nacht und in der Hütte alles still geworden war, sagte die kleine Kuh zu der kleinen Ziege:

          »Was tun, Gesellin?«

          »Was sonst, als das Kind suchen gehen?«

          Auch Bagan war auf die Krippe geklettert. Klein ist er, daumenlang, hat an den Füßchen winzige Pferdehufe, auf dem winzigen Menschenkopf Ochsenhörnchen. Zur kleinen Kuh und zur kleinen Ziege sagt Bagan:

          »Macht euch auf! Etwas anderes gibt es nicht.«

          Rillhörnchen wird nachdenksam:

          »Wohin fänden wir zwei allein? Geh du mit uns, Bagan! Bist klüger als wir.«

          »Und wer wird derweil das Gut des Kleinen behüten? An mir ist's, zu bleiben, an euch, zu gehen«, ordnet Bagan an.

          Dann löste Bagan die Schlinge, womit Rillhörnchen an die Krippe gefesselt war. Hierauf ergriff er den Strick, um auch Rotbärtchen zu befreien. Doch dieses sagte: »Löse den Strick von der Krippe, aber winde ihn mir um die Hörner. Er kann uns noch vonnöten sein.«

          Bagan tat so, wand den Strick um die Hörner der kleinen Ziege — dann öffnete er die Stalltür und Rillhörnchen und Rotbärtchen wandelten in die Nacht hinaus, Jagor zu suchen. Bagan jedoch blieb zurück, um das Gut des Kleinen zu hüten.

          Rillhörnchen und Rotbärtchen wissen weder wohin, noch welchen Weges sie ziehen sollen. Bagan hat sie nur ins Hochgebirge gewiesen, um das Kind dort zu suchen, wo das kahle Gefels am höchsten und furchtbarsten ist.

          Einen Tag lang zogen sie beide durch lauter Wesen, da gab es Brunnenwasser im Überfluß. Da weidete denn das Kühlein nach Herzenslust und trank sich am reinen Wässerlein satt. Am zweiten Tag ging's von Morgen bis Abend durch dichtes Strauchwerk, bis sie an einen Bach gelangten. Nach Herzenslust zupfte das Zieglein dort Blatt um Blatt vom Gestrüpp und trank sich am reinen Wässerlein satt. Am dritten Wandertag kamen sie höher hinauf, in verwahrlostes Weinberggelände. Da fand sich nur karge Weide und Pfüzenwasser. Am vierten Tag Zwergföhren, Wacholdergesträuch, kein Tröpflein für den Durst.

          Immer nackter noch wurde der Karst und immer steiler; Rillhörnchen fühlte, daß seine Kräfte schwanden. Als es schon völlig erschöpft war, sprach es bekümmert:

          »Gesellin, ich kann nicht weiter. Und wie hoch über uns, sieh nur, noch der Gipfel ist.«

          »Leg dich unter diesen Wacholderstrauch und warte«, erwiderte Rotbärtchen. »Mühten wir beide uns bis zu jenem Gipfel empor, so ginge uns beiden die Milch aus und wir hätten nichts, um den Kleinen zu tränken. Ich gehe, ihn zu befreien, und du wirst ihm Nahrung geben.«

          So blieb denn Rillhörnchen unterm Wacholderstrauch und Rotbärtchen kletterte weiter, immer höher kletterte es und je höher es kam, desto nackter und schroffer türmte sich das Gestein. Kahl und schrecklich, geradeaus, steilte der Gipfel ins Himmelsgewölbe hinauf. Die Füßchen der Ziege waren mit Blut bedeckt, doch gelangte sie bis zur Höhe und sah, daß jenes Kesseltal mit Felswänden und ehernen Schranken umschlossen war. Und über dem Kessel sahen Luft und Himmel beinahe weiß aus, so fürchterlich war die Hitze, die ihm entstieg.

          »Einen ärgeren Ort im Kahlgebirge gibt es nicht, hier wird auch das Waislein sein«, sagte Rotbärtchen, wand sich noch an der Felswand bis an die Stelle empor, wo diese an die eherne Schranke stieß, und guckte über den Rand in die Tiefe hinab.

          Die Schranke war doppelt so hoch wie ein Mensch und glatt wie Glas, dabei heiß wie die Hölle. An ihrem Fuße im Kesseltal schlief das Kind, allzu schwer hatte die Qual dieser vier Tage auf ihm gelastet. So hatte es sich aufs Gestein ausgestreckt und war eingeschlafen.

          Rotbärtchen rief das Kind an, doch es hörte nicht. Nur jene Schafungetüme hoben die schrecklichen Köpfe. Aber erzdumm und stumpf, wie sie sind, was wissen sie anderes zu tun, als diese riesigen Köpfe wieder zu senken und wieder an jenem wie Kupfer schillernden Laube zu kauen, das ihre roten Häupter mit Flammen umsprüht. Da bröckelt Rotbärtchen mit seinem Huf ein Steinchen ab. Das Steinchen Fällt neben das Kind. Das Kind erwacht.

          Wie Jagor die Augen öffnet und über sich das rote Bärtchen sieht und die zwei schlanken Hörner, zwei Augen dazu — wären's zwei Engel Gottes, sie könnten ihm nicht willkommener sein. Das Kind springt empor, hebt die Arme und ruft:

          »Befreie mich, du mein Nährmütterlein!«

          Wie Rotbärtchen des Kindes Stimme vernimmt, weiß es nichts mehr davon, daß seine Füße wund und zerrissen sind. Könnte es nur zum Kind oder dieses zu ihm.

          Mit den Vorderfüßchen stemmt es sich gegen die Schranke und schüttelt den kleinen Kopf. Da löst jener Strick sich von seinen Hörnern und des Strickes Ende fällt Jagor just in die Hand. Das andere Ende ist noch an der Ziege Hörnern befestigt. Jagor erfaßt den Strick und beginnt sich an ihm in die Höhe zu winden, bis er glücklich mit seinen Händen Rotbärtchens Hals umfaßt. Und Rotbärtchen hebt das Kind über die Schranke, befreit es so aus dem Höllenkessel und bettet sich mit ihm erschöpft aufs Gestein, um Atem zu holen.

          Und das Kind, das sein liebes Rotbärtchen so schwer erwartet hat, läßt die Arme nicht von dessen Hals. So liegen sie lange eines neben dem andern, klein und allein wie zwei Ameislein, auf jener ungeheuren, furchtbaren Gipfelhöhe.

          »Auf, auf! Seelchen Jagor«, sagt endlich die kleine Ziege.

          »Kann nicht, Rotbärtchen, bin vor Durst wie verbrannt. Tränke du mich mit Milch.«

          »Es ist keine Milch in mir — sie ist ausgetrocknet. Laß uns bis zu Rillhörnchen hinuntergehen.«

          Hungernd, dürstend, zerschlagen kletterten sie den steilen Gipfel hinab. Es ging um ihr Leben. Da hielt das Kind sich an Rotbärtchen und dieses ans Kind, um nicht abzustürzen, und glücklich gelangten sie so zum Wacholderstrauch. Unterm Wacholderstrauch liegt Rillhörnchen, schön ausgeruht, in Schattenkühle gekühlt, erfrischt von Tau, und ob es gleich zwei Tage lang ohne Futter geblieben ist, empfängt es die zwei doch mit Freuden.

          »Fürchtet euch nicht, meine Lieben, habe Milch für euch beide.«

          Da legten die beiden sich nieder und tranken sich satt. Dann sagten sie munter:

          »Rillhörnchen, Mütterchen, was es an gutem und zartem Spätgras gibt, sei alles dein.

          Selbst hast du gehungert und uns hast du noch getränkt.«

          Dann erhoben sich alle drei und schlugen den Weg ein, auf dem die guten Tiere gekommen waren, durch Wacholderwäldchen, über verwahrlostes Weinberggelände bergab, dann durchs Gestrüpp und über die Wiesen. Wozu Rillhörnchen und Rotbärtchen vom Hause weg vier volle Tage gebraucht hatten, das legten sie, dem Hause zu, mit dem Kind in einem einzigen Tage zurück.

 

3.

 

          Während all dies vorging, hatte die Stiefmutter sich im Hause zur Herrin gemacht. Und als sie an jenem Morgen innegeworden war, daß Rillhörnchen und Rotbärtchen fehlten, hatte sie ausgerufen:

          »Um so besser für mich, keinerlei Sorgen und im Hause Weizen und Zukost für gut zwei Jahre, Linnen und Wolle für drei. Werde leben für mich allein, nach meinem Gefallen, Herrin bin ich von allem. Alles muß tun, was ich will: Feld und Stall, Getreide und Wollgewebe.«

          Sie hatte den Kopf gehoben und sich gleich darangemacht, alles zu durchmustern. Doch Bagan — stärker als ein Hüne, kleiner als eine Maus — ist immer hinter ihr her. Nur daß sie, hitzig und hoch hinaus, den Kopf so aufrecht trägt, daß sie nicht sieht, was zu ihren Füßen vorgeht. Kam sie so in den Stall — Bagan war vor ihr da; sie in die Scheune — er an der Scheunentür; sie in die Hütte, er kauert unter der Schwelle. Sie aber denkt fort und fort: »Bin allein. Alles ist mein. Wer kann wider mich sein!«

          Bis spät in den Abend hinein trieb sie's so, freute sich ihrer Freude bis tief in die Nacht. Dann legte sie sich zur Ruhe. Kaum war sie eingeschlafen, da pocht es gegen die Hüttentür wie ein Mäusezahn. Alsogleich schiebt der Riegel der Tür sich von selbst zurück, tut die Tür sich allein auf, erglänzen die rußigen Haken über dem Herde wie Lichtlein — und Bagan tritt— an der Schwelle. Seine Äuglein heran und steht — er ist kaum einen Daumen hoch schweifen in der Hütte herum und wo er hinblickt, heißt ihn alles willkommen: die Bank an der Wand, die Spindel hinter dem Ofen verbeugen sich, Truhe und Dreifuß begrüßen ihn.

          »Auf, Gesellen, laßt uns sehen, wie wir ihr widerstehen!« sagt Bagan. Gleich schiebt die Eichenbank sich an den Herd, der Dreifuß an die Truhe, läßt die Spinne sich vom Gebälk herab, kommt die Spindel aus ihrem Versteck. So rückt eins auf das andere zu, um Zwiesprach zu halten. Nur die Haken steigen nicht von den rußigen Wänden herab. Doch soviel Haken, soviel Glanzlichtlein rings an den Wänden.

          »Wie wollt ihr der Stiefmutter widerstehen?« fragte Bagan aufs neue.

          Man sann, man besprach sich — doch stellte es sich heraus, daß die Bank zu schwer, der Dreifuß verkrüppelt, die Spindel zu dünn und die Spinne mißlaunig war. Wen aus dieser Gesellschaft konnte Bagan gegen die Stiefmutter stellen? — Vor Scham zogen die Haken ihre Glanzlichttlein ein.

          Da leuchtete plötzlich auf dem dunklen Gestell im Winkel die breite Flamme der alten Öllampe auf. Niemand wußte etwas von ihr, niemand hatte nach ihr gerufen. Es flammte also das Licht in der Öllampe auf, leuchtete auf und sprach: »Sucht und erwählt das Kleinste und Allergeringste, was in Stall und Hütte zu finden ist. Daran wird ihre Kraft zerschellen.«

          Die Flamme der alten Ollampe verstummte wieder, es wurde dunkel, nur die Glanzlichterchen an den Haken wagten sich neu hervor. Und Bagan sagte: »Wir wollen gehorchen, denn älter als jeder von uns ist dieses Feuer.«

          Sofort machte Bagan sich auf und verkroch sich noch in der nämlichen Nacht in den Weizen der Scheune, wühlte und wählte, bis er an ein winziges Körnchen kam. Dem näherte er sich und sagte: »Weizenkörnchen, Weizenkörnchen des Kindes, ergib dich nicht!« Dann legte er das Körnchen zuoberst hin auf den Haufen. Nun begab er sich in die Hütte zurück, kroch in die Wolle, fand ein winziges Härchen heraus, dem näherte er sich und sagte: »Wollhärchen, Wollhärchen des Kindes, ergib dich nicht!« Darauf legte er das Härchen zuoberst hin auf die Wolle. Um und um warf er hierauf im Stall alles Stroh, fand ein winziges Hälmchen und sagte: »Strohhälmchen, Strohhälmchen des Kindes, ergib dich nicht!« Hiemit legte er es zuoberst hin auf den Bund.

          Als es Morgen ward, erhob die Stiefmutter sich und trat ihre Herrschaft an. Auch gehorchte ihr alles und jedes wie sich's gehört, nur fand sich in allem irgendein Ding, das sich nicht überwinden ließ.

          Wirft die Stiefmutter Korn in die Mühle, so wird alles Korn vermahlen, nur ein einziges Körnchen gibt nicht nach, schrillt und zwillt, hält den Mahlstein auf und du kannst nicht finden, welches der Körnchen es ist.

          Nimmt sie Werg auf die Spindel, so läßt alles sich weich verspinnen, nur ein einziges Härchen wehrt sich, sticht in die Finger wie eine Nadel und du kannst nicht entdecken, welches der Härchen es ist.

          Geht sie sodann in den Stall, um Stroh für einen Kopfkranz zu holen, so läßt jeder Halm sich winden, nur ein einziges Hälmchen starrt widerborstig empor, und sucht die Stiefmutter es auszumerzen, so schlüpft es in den Bund und du kannst nicht finden, welcher Halm es gewesen ist.

          Und so Tag um Tag — alle vier Tage hindurch. Doch die stiefmutter tröstet und beschwichtigt sich selbst:

          »Das ist nichts. Ein Körnchen, ein Härchen, ein Hälmchen Stroh. Ist doch alles andere mein.«

          Aber irgendwie schlägt sich's ihr doch aufs Gemüt, nimmt ihr Kräfte fort — ist nicht so, wie es wäre, gäbe es jenes Strohhälmchen nicht, und so zieht etwas wie Bangigkeit in die Seele der Stiefmutter ein.

          Am fünften Tage tritt die Stiefmutter aus dem Haus, um sich jene drei Ackerbeete genau zu besehen. Kaum ist sie am Flechtzaun, da guckt die Mittagshexe schon hinter dem Zaune hervor. Sie hat den Kopf nur wenig aus der Erde gestreckt, der Abend naht, sie würde erfrieren, käme sie ganz heraus.

          Die Mittagshexe verzieht vor Grimm das Gesicht. »Was frommt es dir, das Feld zu beschauen«, ruft sie der Stiefmutter zu. »Der Eigner kommt zurück.«

          Da erschrak die Frau und das alte Weib verzog noch ärger das Gesicht.

          »Entsprungen ist mir dein Stiefsohn, mein Hirtenbüblein. In kurzer Zeit wird er hier sein. Hilf mir, daß ich ihn wieder zurückbekomme.«

          »Gerne, Gevatterin. Wie sollte ich nicht«, schmeichelte die Stiefmutter. »Aber wie machen wir's?«

          »Das ist leicht. Sowie du ihn nahen siehst, locke ihn schön bis an das Gattertürchen. Ich will die Erde davor untergraben, so daß sie hohl ist. Tritt er darauf, so fällt er auch schon in den Schacht — und ist er drin, so kümmere dich um das weitere nicht.« Dabei lachte sie schaudererregend.

          »Auf! Grabe zu, liebe Gevatterin. Möge dir's glücken«, stimmte die Stifmutter bei. Und sogleich fuhr die Mittagshexe mit dem Kopf unter die Erde und begann zu wühlen, zu bohren, zu graben, bis der Stollen unter dem Gattertürchen ausgehöhlt war. Nur eine dünne Schicht Erde lag noch darüber. Setzte ein Vögelchen sich darauf, es müßte versinken.

 

4.

 

          Rillhörnchen, Rotbärtchen und Jagor waren indes bis zum Rasenplatz vor dem Gattertürchen gekommen. Hütte, Stall und des Kindes gesamtes Gut liegen vor ihm auf dem runden, niederen Hügel; am Gattertürchen wartet die Stiefmutter schon, aus dem Stollen schielt die Mittagshexe mit einem Auge, aber ober der Stalltür, am Rande des Schwalbennestes, kauert Bagan und hinter Bagan gucken Schwalben und Schwälbchen hervor.

          Aller Augen sind dem Rasenplatz zugekehrt, den das Waisenknäblein eben betreten hat.

          Jagor freut sich des Anblicks von Hütte und Stall, aber Rotbärtchen wendet sich Rill hörnchen zu:

          »Wie machen wir's nun, Gesellin?«

          »Oh, schön machen wir's«, Rillt Jagor ein. »Ich gehe durchs Gattertürchen voran, ihr beide folgt mir.«

          »Das taugt nicht, Jagorkind. Wir sind allein auf der Welt. Da heißt's auf der Hut sein.«

          Rillhörnchen steht und hat sich ins Gattertürchen verschaut. Lange steht es so. Dann sagt es:

          »Etwas ist nicht geheuer. Laßt uns nicht weitergehn.«

          Auch Rotbärtchen steht und verschaut sich. Dann sagt es gleichfalls:

          »Auch mir scheint es so. Laßt uns warten.«

          So stehen sie beide wie angewurzelt und lassen das Kind nicht voran.

          »Vorwärts, Söhnchen, nur keine Furcht. Mutter hat dir verziehen«, lockt die Stiefmutter mit süßer Stimme.

          Jagor, der sich unter sein Dach sehnt, will vorwärts gehen — doch Kuh und Ziege verwehren's.

          Aber die Stiefmutter merkt das sogleich und lacht in sich hinein.

          »Das wäre traurig, könnte ich einen, der sich vom lieben Vieh führen läßt, nicht überlisten.«

          Sie tut das Gattertürchen weit auf, stellt sich daneben und beginnt die Tiere anzulocken:

          »Na, Liebe, na!«

          Rillhörnchens und Rotbärtchens Sinne verwirren sich. Wie könnte das liebe Vieh seiner offenen Gattertür widerstehen? Sie heben die Köpfe, verschauen sich in die Gattertür und das offene Tor des Stalles, vergessen alles und nähern sich dem geöffneten Türchen — Jagor freudig voran.

          Alles ist verstummt: zusammengekauert im Stollen hat sich die Mittagshexe, die Stiefmutter hat die Hände zusammengepreßt. In Hütte, Feld und Gärtchen ist es still geworden — überallhin hat die Stille sich ausgebreitet und näher und immer näher kommt Jagor der Gattertür.

          Und wie es am allerstillsten ist, hebt unerwartet über dem Stall ein Gezwitscher an, schießen die Schwälblein aus ihrem Neste nach allen Seiten: die junge Brut wie die Alten. Sie zwitschern, flattern unter dem Dachvorsprung, kreuzen und streichen vor dem Stall umher und zwitschern, zwitschern immerzu!

          Das Kind schaut empor, auch Rillhörnchen und Rotbärtchen bleiben unverhofft stehen und so sieht auch die Stiefmutter sich nach der Ursache von so viel Gezwitscher um.

          Da aber beginnt sich aus dem Schwalbenneste ein Hanfband herabzusenken. Senkt sich über die Stalltür, deckt sie, schaukelt, zerteilt sich und in ihrem Rahmen erscheint ein alter Mann. Sein Bart ist grau, weiß das Hemd und gegürtet und unter der Achsel trägt er eine Weizengarbe.

          So steht der Greis unbeweglich, er lächelt nur und streckt die Hände abwehrend gegen das Kind aus, um dessen Gang aufzuhalten. Und das Hanfgespinst schaukelt leise im Rahmen der Tür.

          Bleich vor Furcht steht die Stiefmutter da. Nie zuvor hat man von solch einem Greise im Hause gehört, und was weiß ein habsüchtiger Neuling von alledem, was die Alten in all dies Flechtwerk geflochten haben.

          Aber Jagor schaut und schaut vom Rasenplatz her auf den Greis, und als das Kind unter dessen Achsel die Weizengarbe erblickt, lächelt es gleich und kniet auf den Rasen hin, und von der Stalltür aus — über das Gattertürchen, über der Stiefmutter Kopf und den gefährlichen Stollen hin — segnet der Alte sein Enkelkind.

          Und Jagor kniet und bleibt auf dem Rasenplatze.

          Wie versteinert steht die Stiefmutter vor diesem Wunder; doch kaum ist der Alte verschwunden, so wird sie von Wut erfaßt.

          »In dem Hause da ist das Kind stärker als ich. Zauber bergen sich unter dem Dachvorsprung, die zu ihm halten. Es darf mir nicht über die Schwelle.«

          Und sie trägt jenes übriggebliebene Brotstück heraus, wirft es durch die geöffnete Gattertür vor Jagor auf den Rasen hin und dazu verhöhnt sie das Waisenkind.

          »Da, das hat dein Vater dir hinterlassen. Nimm es hinweg und geh, daß meine Augen dich nicht mehr erblicken.«

          Jagor hebt das Brot auf.

          »Ist hier noch etwas mein, das du mir geben kannst?« fragt er.

          »Und ob!« höhnt die Stiefmutter wieder. »Ein Körnchen, ein Härchen und ein Hälmchen Stroh. Mächtig du, mächtig diese drei, vereinigt euch doch, wenn ihr könnt!«

          Herzlos höhnte sie, doch zu übler Stunde für sie, denn nun war das Maß allzu voll.

          Kaum hatte sie ausgesprochen, als sich über den Rasenplatz eine lange und starke Rebenschlinge hinstreckte, deren Enden im Nu die Pflöcke zu beiden Seiten des Gattertürchens verbanden, und etwas spannte sich unter der Rebenschlinge, spannte sich und zog sie zusammen. Mächtig zog es daran, noch mächtiger aber zog es herab und heran.

          Das Gattertürchen aus Flechtwerk kam in Bewegung, mit ihm das ganze Zaungeflecht und alles, was von diesem Geflechte umschlossen war: Hütte und Stall, Gärtchen und Ackerland fuhren zusammengefaßt den Hügel herab. Und wie das Gehöft herabfuhr, brach der Schacht unter der Gattertür ein, fiel die Stiefmutter in den Schacht, fuhr das Haus über den Schacht hin, begrub die Stiefmutter, köpfte die Mittagshexe und des Kindes Gütchen glitt schön und ganz, glatt wie aus Gottes Hand, den Hügel herab, geradewegs vor die Füße des Waisenknäbleins. Und kaum war am Grase, als das geschah, etwas davon zu merken, nur Spuren von winzigen Hufen — nicht größer als Mäusepfiitchen — blieben auf jener Stelle des Rasens zurück, wo Bagan das Gehöft an seiner Schlinge den Hügel herabzog. Und das Gehöft blieb vor dem Kinde stehen.

          Da umschlang das Kind Rotbärtchen, die kleine Ziege, mit einem Arm, mit dem andern Rillhörnchen, die kleine Kuh, und betrat mit ihnen sein Gut. Und als Jagor den Fuß in die Hütte setzte, begannen die Hakenköpfe zu glänzen, flammte die Öllampe auf, tränte der Mutter Spindel, kamen das Körnchen, das Härchen, das Strohhälmchen herbei und legten sich friedsam dem Waisenkind in seinem Heime zu Füßen.

          Und Bagan? — Dort sitzt er im Geflecht, in seiner Weizengarbe, und schläft bereits. — Was soll er auch sonst? Ist ihm doch von all seinen Beschäftigungen diese die liebste.