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Regotsch und Kosjenka

Ivana Brlić-Mažuranić

autor

zbirka

Aus Urvaterzeiten - Marchen aus kroatischer Urzeit

godina

1999.

jezik

njemački

jezik izvornika

hrvatski

medij

tiskani tekst

prevoditeljica

Camilla Luzerna

ilustrator

Vladimir Kirin

sken

ilustracije

priča

1.

 

          In einer schönen Sommernacht hüteten Pferdehirten auf einer Hutweide Pferde. Hüteten, hüteten sie, bis sie endlich einschliefen. Kaum waren sie eingeschlafen, da flogen aus Wolkenhöhe Wilen herbei, um mit den Pferden nach Wilenart ein wenig umherzutollen. Jede der Wilen fing sich ein Pferdchen ein, schwang sich darauf, begann es zu peitschen mit ihren goldenen Haaren und los ging das Treiben im Kreise über das taufeuchte Gras.

          Es war aber eine kleine Wila unter den Wilen. Kosjenka hieß sie, und jene Nacht war die erste, in der sie aus den Wolken zur Erde herunter kam.

          Kosjenka gefiel es über die Maßen wohl, so dem Sturmwinde gleich bei Nacht auf einem Pferdchen zu reiten. Und gerade sie hatte den feurigsten Rappen errafft: klein, aber feuerwild. Da rennt nun der Rappe im Kreis mit den übrigen Rossen herum, ist aber weitaus der schnellste von allen. Schaumflocken fliegen nur so von seinem Fell.

          Kosjenka aber verlangt noch heißeres Rennen. Sie neigt sich nach vorne und kneift den Rappen ins rechte Ohr. Der Rappe scheut, hebt sich auf die Hinterbeine, dann aber rast er geradeaus, läßt die anderen Pferde, läßt Wiese und Weide, Hürde und Hut hinter sich und trägt wie ein Wirbelsturm die kleine Kosjenka hinaus in die weite Welt.

          Solch ein pfeilschnelles Reiten ist nach Kosjenkas Sinn.

          Sie sausen windgleich an Feldern und Flüssen, an Auen und Hügeln vorbei. Über Berge und Täler geht es. — »Du lieber Gott ...

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Regotsch und Kosjenka

Ivana Brlić-Mažuranić

1.

 

          In einer schönen Sommernacht hüteten Pferdehirten auf einer Hutweide Pferde. Hüteten, hüteten sie, bis sie endlich einschliefen. Kaum waren sie eingeschlafen, da flogen aus Wolkenhöhe Wilen herbei, um mit den Pferden nach Wilenart ein wenig umherzutollen. Jede der Wilen fing sich ein Pferdchen ein, schwang sich darauf, begann es zu peitschen mit ihren goldenen Haaren und los ging das Treiben im Kreise über das taufeuchte Gras.

          Es war aber eine kleine Wila unter den Wilen. Kosjenka hieß sie, und jene Nacht war die erste, in der sie aus den Wolken zur Erde herunter kam.

          Kosjenka gefiel es über die Maßen wohl, so dem Sturmwinde gleich bei Nacht auf einem Pferdchen zu reiten. Und gerade sie hatte den feurigsten Rappen errafft: klein, aber feuerwild. Da rennt nun der Rappe im Kreis mit den übrigen Rossen herum, ist aber weitaus der schnellste von allen. Schaumflocken fliegen nur so von seinem Fell.

          Kosjenka aber verlangt noch heißeres Rennen. Sie neigt sich nach vorne und kneift den Rappen ins rechte Ohr. Der Rappe scheut, hebt sich auf die Hinterbeine, dann aber rast er geradeaus, läßt die anderen Pferde, läßt Wiese und Weide, Hürde und Hut hinter sich und trägt wie ein Wirbelsturm die kleine Kosjenka hinaus in die weite Welt.

          Solch ein pfeilschnelles Reiten ist nach Kosjenkas Sinn.

          Sie sausen windgleich an Feldern und Flüssen, an Auen und Hügeln vorbei. Über Berge und Täler geht es. — »Du lieber Gott, wie viele Dinge trägt diese Erde doch!« denkt sich Kosjenka froh, indem sie die Herrlichkeiten bewundert. Am besten gefiel es ihr aber in einer Gegend, die ein von prächtigem Walde gekröntes Gebirge durchzog; zu Füßen des Berges lagen zwei goldene Felder, zwei goldenen Tüchern gleich hingebreitet, zwei weiße Dörfchen auf ihnen, zwei weißen Täubchen vergleichbar. Nicht weit davon sah man ein großes Gewässer blinken.

          Der Rappe aber, der hielt weder hier noch dort, er rannte und rannte nur toll immer weiter und weiter.

          So sprengte der Rappe mit Kosjenka noch lange und lange dahin, bis sie endlich in eine schier endlose Ebene kamen, aus der ein eisiger Wind ihnen entgegenblies. Der Rappe rannte hinein, da war aber alles rundum nur gelbe Erde — da gab's weder Baum noch Halm, immer eisiger wurde die Kälte, je tiefer sie in die Ebene drangen. Wie groß diese Ebene war, läßt sich nicht beschreiben, denn nie hat ein Lebender ihre ganze Weite durchquert.

          Volle sieben Tage und sieben Nächte jagte der Rappe so mit Kosjenka dahin. Im Morgengrauen des achten Tages langen sie endlich im Herzen der Ebene an. Im Herzen der Ebene stand mit verfallenen Mauern die fürchterlich große Stadt Legengrad und darin herrschte eine ganz grimmige Kälte.

          Als der Rappe mit Kosjenka auf das uralte Stadttor von Legengrad zugesprengt kam, warf Kosjenka rasch ihren Wilenschleier über eine der Mauern und hielt sich damit an der Mauer fest. Der Rappe rannte hinweg unter ihr — und so wie er fortgerannt war, so rannte er bis in sein Alter zwischen den mächtigen Mauern von Legengrad hin und her, bis er endlich zum nördlichen Stadttor gelangte und wieder hinaus in die endlose Ebene lief— der Himmel mag wissen, wohin!

          Kosjenka jedoch stieg von der Mauer herab und fing an in der Stadt umherzugehen, in der alles stein— und beinhart gefroren war. Ihren Wilenschleier, ohne den sie nicht wieder zu den Wolken auffliegen konnte, wand sie um die Schultern, denn auf ihn gab sie höchlich acht. — So erging sich also Kosjenka in Legengrad und dabei war ihr immer zumute, als müsse sie irgendwo in dieser öden Stadt, die so wunderbar und so riesenhaft war, irgendein Wunder antreffen. Und doch war da nirgends etwas zu sehen als ungeheure, zerfallene Mauern und nichts zu hören außer dem Krachen der Steine, die bei dieser eisigen Kälte barsten.

          Mit einemmal, als Kosjenka um die mächtigste Mauer bog, da, unter der Mauer, sah sie einen Menschen schlafen. Mächtig groß war dieser Mensch, größer als die mächtigste Eiche im mächtigsten Wald. Ein Mantel, riesengroß und vom dichtesten Leinen, bedeckte ihn und mit einem fünf Klafter langen Gürtel war er umgürtet. Sein Kopf war so groß wie das größte Faß und sein Bart wie ein Schober Maisstroh, so wirr und struppig. So riesengroß war dieser Mensch, daß man meinen konnte: ein Kirchturm läge dort längs der Mauer gestreckt.

          Dieser Riese hieß Regotsch und lebte in Legengrad und hatte nichts zu tun, als die Mauersteine der Stadt zu zählen. Die hätte er freilich nie auszählen können, hätte er nicht einen Kopf so groß wie ein Faß gehabt. So aber zählte und zählte er fort und fort — schon tausend Jahre lang hatte er so gezählt und hatte schon dreißig Mauern und fünf der Tore von Legengrad ausgezählt.

          Als Kosjenka Regotsch erblickte, schlug sie vor Staunen die Hände zusammen. Nie hätte sie denken können, daß es solch ein riesiges Wesen auf Erden gäbe.

          Neben dem Ohre des Riesen setzt sich Kosjenka nieder (Regotsch' Ohr ist so groß wie die ganze Kosjenka) und ruft:

          »Hast du nicht kalt, Onkelchen?«

          Regotsch erwacht, Regotsch lacht und beschaut sich Kosjenka:

          »Ei, kalt, freilich ist's kalt«, sprach er sodann mit einer so tiefen Stimme, daß es wie Donnergeroll aus der Ferne klang. Seine Riesennase war blaurot vor Kälte geworden, Bart aber und Haare waren mit Rauhreif bedeckt.

          »Du lieber Gott, ein so großmächtiger Mann und macht sich kein Dach gegen die Kälte«, bemerkte Kosjenka.

          »Eh, warum wohl?« gröhlte Regotsch und lachte wieder. »Sonne wird kommen!«

          Dann setzte sich Regotsch auf. Setzte sich auf, fuhr mit der Rechten über die linke Schulter und mit der Linken über die rechte Schulter und streifte so eine Unmenge Rauhreif ab; von jeder Schulter etwa so viel, als Schnee von einem Dache herabgleiten mag.

          »Paß auf, paß auf, Onkelchen, du verschüttest mich ja!« rief Kosjenka. Doch Regotsch vernahm sie kaum. Denn es ist sehr weit von Kosjenka zu Regotsch' Ohr, so hoch ist er über ihr, wenn er sitzt.

          Darum hob Regotsch Kosjenka auf seine Schulter, sagte ihr, wie er heiße und worin seine Arbeit bestände, sie aber erzählte ihm, wie sie hiehergelangt sei.

          »Schau, dort kommt die Sonne«, zeigte ihr Regotsch an.

          Kosjenka blickte hin, da, wahrlich hob sich die Sonne, blaß und matt, als hätte sie niemand zu wärmen.

          »Dumm bist du, Regotsch, fürwahr, du bist dumm, hier zu leben und lebenslang die öden Steine von Legengrad auszuzählen«, sagte Kosjenka. »Komm mit mir, Regotsch, die Wunder der Welt zu besehen und dir eine Arbeit zu finden, die arbeitswürdiger ist.«

          Niemals noch hatte Regotsch daran gedacht, einen schöneren Ort, als es Legengrad war, auszusuchen, nie noch war ihm der Gedanke gekommen, daß es bessere Arbeit gäbe, als es die seinige war. Vielmehr hatte Regotsch immer und immer gedacht: »Es ist mir bestimmt, die Steine von Legengrad abzuzählen«, und nach etwas Besserem hatte er nicht gefragt.

          Kosjenka aber ließ nicht ab, ihm zuzureden, er möge in ihrer Begleitung die Welt besehen.

          »In eine wunderprächtige Gegend will ich dich führen, wo ein alter Wald über zwei goldenen Feldern steht«, lockte Kosjenka.

          Lange sprach sie ihm zu, und Regotsch, der sich noch nie mit jemandem unterredet hatte, konnte ihrem Zureden nicht widerstehen.

          »Gehen wir halt!« sagte er.

          Wie freute sich jetzt Kosjenka. Aber es galt vorerst, erwas zurechtzumachen, worin Regotsch Kosjenka mit sich tragen könnte. Denn Regotsch besaß um und um nicht das Geringste.

          Da zog Kosjenka aus ihrem Gewande ein winziges Säckchen, das war mit Perlen gefüllt. Diese Perlen hatte ihre Mutter ihr in den Wolken gegeben und ihr dann erst erlaubt, sich zur Erde herabzulassen. »Wenn du etwas brauchen solltest«, hatte sie dabei gesagt, »so wirf nur ein Perlchen fort und gleich wird das Gewünschte vor dir entstehen. Verwahre die Perlen wohl, denn auf der Welt gibt es so viele Dinge, daß man ihrer nur immer mehr nötig hat.«

          So nahm denn Kosjenka eine Perle heraus und warf sie von sich — und alsogleich stand ein Körbchen vor ihr, genau so hoch wie Kosjenka, an dem Körbchen aber war eine Schlinge befestigt, genau so groß wie Regotsch', des Riesen, Ohr.

          In den Korb springt Kosjenka, Regotsch nimmt ihn auf und hängt ihn an sein Ohr wie ein Ohrgehänge.

          Lacht Regotsch, niest er oder schüttelt er gar den Kopf, so wiegt Kosjenka sich wie in einer Schaukel. Auf diese Weise zu reisen, gefällt ihr wohl.

          Will also Regotsch die Reise beginnen und macht schon den ersten Zehnklafterschritt. Da bittet Kosjenka:

          »Könnten wir, Regotsch, wohl unter der Erde reisen, damit ich sehe, was es unter der Erde gibt?«

          »Wie könnten wir nicht!« erwidert Regotsch, für den es ein Kinderspiel war, die Erde zu spalten. Nur war es ihm niemals noch in den Sinn gekommen, nachzuschauen, was es unter der Erde gibt.

          Doch Kosjenka wollte alles Gottgeschaffene kennenlernen — sie besprachen also, unter der Erde zu reisen, und zwar bis dahin, wo jener Wald und die goldenen Felder standen. Dort wollten sie wieder ans Tageslicht.

          Als dies besprochen war, fing Regotsch an, die Erde zu spalten. Hob Regotsch also seinen Riesenfuß und stampfte zum erstenmal: da erzitterte die ganze große Stadt Legengrad so, daß viele Mauern einstürzten. Hob Regotsch zum zweitenmal den Fuß und schlug damit gegen die Erde: da wurde die ganze Ebene weithin erschüttert. Hob Regotsch zum drittenmal den Fuß und als er ihn gegen die Erde schlug, da bebte die halbe Welt, die Erde barst unter Regotsch' Fuß und Regotsch versank mit Kosjenka unter die Erde.

          Unten sind sie, aber unter der Erde ist alles hohl: Wege und Säulen nach allen Seiten, weiß Gott, wer sich da wohl herumtreibt. Auch hörte man unten Gewässer rauschen und Winde wehen.

          Sie schlugen also einen der Wege ein, eine Zeitlang fiel Licht noch durch jenen Spalt, durch den sie heruntergesunken waren. Doch je weiter sie drangen, desto tiefer wurde die Finsternis. Schwarze Finsternis, wie es solche nur unter der Erde gibt.

          Doch Regotsch geht auch durch die Finsternis. Greift mit seinen mächtigen Händen von Säule zu Säule und geht immerzu.

          Kosjenka erschauert vor solch einer Finsternis, packt Regotsch beim Ohr und schreit:

          »Solch eine Finsternis, Regotsch!«

          »Eh, laß sie«, erwidert Regotsch. »Ist doch die Finsternis nicht zu uns gekommen. Wir kamen zu ihr.«

          Arger erfaßte Kosjenka, daß Regotsch mit allem gleich vorliebnahm, hatte sie sich doch von solch einem großmächtigen Manne auch große Dinge versprochen.

          »Schlimm erginge es mir neben dir, hätte ich meine Perlen nicht!« meinte sie zornig.

          Dann warf sie ein Perlchen von sich und alsogleich leuchtete in ihrer Hand, hell, als brenne lauteres Gold darin, eine Lampe auf. Tiefer verkroch sich die Finsternis in die Erde und die unterirdischen Wege wurden weithin erleuchtet.

          Wie freute sich Kosjenka des Lämpchens, zeigten sich ihr doch alle die Wunderdinge, die seit alters her unter die Erde gesunken waren. An einem Orte sah man Herrschaftspaläste, Fenster und Türen waren in Gold gefaßt, mit rotem Marmorgestein ummauert. An einem zweiten häuften sich Heldenwaffen, schlanke Flinten, schwere Damaszenerklingen, mit Edelsteinen und funkelnden Diamanten besetzt. An einem dritten lag ein seit langem vergrabener Hort: goldene Schüsseln, silberne, mit Dukaten gefüllte Pokale und die dreimal umgeschmolzene Kaiserkrone. Alles dies war durch Gottes Fügung hiehergelangt, und es ist ein Geheimnis Gottes, weshalb so viele Schatze hier ruhen müssen.

          Doch Kosjenkas Augen wurden durch diese Wunder geblendet und statt geradewegs vorwärts zu gehen, wie sie beschlossen hatten, bat Kosjenka Regotsch, sie auf den Boden herabzulassen, damit sie ein wenig spielen, die Wunder sattsam bestaunen und Gottes Geheimnisse näher beschauen könne.

          So ließ denn Regotsch die kleine Kosjenka herab und sie nahm ihr Lämpchen, lief zu den Herrschaftspalästen, den Heldenwaffen, dem Hort. Um ihr Perlensäckchen beim Spiel nicht zu verlieren, legte sie es an den Fuß einer Säule.

          Regotsch setzte sich unweit davon, um auszuruhen.

          Hierauf fing Kosjenka an, mit den Schätzen zu spielen, betrachtete alle die Herrlichkeiten, drehte sie um und um, warf die gelben Dukaten aus einem Händchen ins andre, beschaute die mit Silber eingelegten Pokale und setzte sich die dreimal umgeschmolzene goldene Krone aufs Haupt. Alles beschaute, bewunderte, mit allem spielte sie, dann aber fiel ihr ein ganz dünnes Elfenbeinstäbchen ins Auge, das an eine mächtige Säule angelehnt war.

          Und just dieses dünne Städchen nur hielt jene mächtige Säule, damit sie nicht stürze, denn sie war durch Wasserfluten ganz unterhöhlt. Und darum hatte Gott dieses Stäbchen just so eingelassen — und das Stäbchen stemmte sich unter der Erde gegen den Säulenschaft.

          Kosjenka jedoch fragte sich:

          »Warum steht dieses Stäbchen gerade dort?«

          Hin geht sie, nimmt das Stäbchen weg, will es beschauen. Aber kaum hat Kosjenka das Stäbchen gefaßt und verrückt, da erdröhnen die unterirdischen Gänge, die mächtige Säule gerät ins Schwanken, dann stÜrzt sie ein und ein ganzer Berg Erde verschüttet, versperrt jetzt den Weg von Regotsch zu Kosjenka. Weder hört eines das andere, noch kann eines das andere sehen, noch können sie zueinander gelangen.

          Gefangen ist also die kleine Wila Kosjenka unter der Erde! Eingeschlossen ist sie lebendig in diesem großen Grabe und wird vielleicht nie mehr die goldenen Felder erschauen, zu denen sie sich auf den Weg gemacht hatte. Und all dies deshalb, weil sie nicht geradeaus an das Ziel reisen wollte, das sie sich vorgesetzt hatte, sondern nach links und nach rechts abgewichen war, um Gottes Geheimnisse zu erlauschen.

          In Weinen und Jammern brach nun Kosjenka aus und suchte, wie sie zu Regotsch gelangen könne. Doch bald erkannte sie, daß kein Durchgang zu finden war und daß es für sie keine Rettung gäbe. Ihr Perlensäckchen aber, das ihr geholfen hätte, lag unter der Erde verschüttet.

          Als Kosjenka dies alles erkannte, hörte sie auf zu weinen, denn sie war überaus stolz. Sie überlegte:

          »Es hilft nichts, sterben muß ich! Von Regotsch darf ich keine Hilfe erwarten, denn Regotsch ist ein Dummkopf, der sich selber nicht hilft. Wie käm' es ihm in den Sinn, mich retten zu wollen? Da hilft nichts, sterben muß ich!«

          Und Kosjenka machte sich gleich zum Tode bereit. Doch wünschte sie, wer sie einmal in diesem Grabe auffände, der solle auch merken, daß sie von hoher Abkunft gewesen sei. Darum setzte sie die dreimal umgeschmolzene Goldkrone auf, nahm den Elfenbeinstab in die Hand und legte sich dann zurecht, um zu sterben. Kosjenka ist mutterseelenallein, niemand ist neben ihr als ihr Lämpchen, das leuchtet, als brenne lauteres Gold dann . — So wie nun Kosjenka allmählich kälter und steifer wird, beginnt auch das Lämpchen allgemach zu erlöschen.

          Regotsch jedoch ist wahrhaftig ein arger Tropf! Als die Säule stürzte und der Weg zwischen ihm und Kosjenka verschüttet war, da rührte der Riese sich nicht, blieb vielmehr ruhig in der völligen Finsternis sitzen. Saß so eine Weile noch, eh er sich endlich entschloß, aufzustehen, hinzugehen, nachzusehen, was es dort gäbe.

          Er tappt im Finstern bis zu der Stelle hin, wo vorher Kosjenka ihr Wesen getrieben, tastet umher und fühlt, daß es nach dorthin keinen Durchgang mehr gibt.

          »Eh, nach dorthin gibt es keinen Durchgang mehr«, denkt er — und sonst denkt er weiter nichts, kehrt vielmehr um, verläßt den frisch aufgeschütteten Berg mit Kosjenka hinter dem Berge und geht den Weg zurück, auf dem sie von der Stadt Legengrad gekommen waren.

          So wandert Regotsch denn seines Weges hin, immer von Säule zu Säule. Schon hat er ein gutes Stück Weges zurückgelegt, aber irgend etwas ist ihm doch nicht recht. Regotsch weiß selber nicht, was ihm nicht recht ist.

          Erst probiert er, seinen Gürtel zurechtzurücken: Ob ihn der Gürtel drückt? Dann reckt er den Arm hoch: Vielleicht ist der eingeschlafen? Aber nein! Es ist weder dies noch das — doch irgendwo klappt's nicht! Staunend steht Regotsch still. Was mag ihn so plagen? Staunend steht er still und schüttelt vor Stauenen den Kopf.

          Wie er den schüttelt, kommt das Körbchen an seinem Ohre ins Schwanken — und da Regotsch spürt, wie leicht das Körbchen geworden ist, und keine Kosjenka sitzt mehr darinnen, zieht's ihm das Herz und die Brust gewaltig zusammen und ihm, dem Dummkopf, fällt am Ende doch ein, daß es Leid um Kosjenka sei, was ihn so plage, und daß er Kosjenka beispringen müsse.

          Schwer war es Regotsch gefallen, dies einzusehen; doch kaum sieht er's ein, da dreht er sich auch schon um wie ein Wirbelwind und rennt zurück zu der Stelle, wo er den Schuttberg verlassen hat und Kosjenka hinter dem Berge. Er rennt zu der Stelle zurück — und im Nu ist er dort. Mit beiden Händen beginnt er im Berge zu graben. Er gräbt, gräbt darauf los! Und im Nu hat er ein großes Loch durchgegraben und schon sieht er Kosjenka. Da liegt Kosjenka mit der goldenen, dreimal umgeschmolzenen Krone. Kalt ist sie schon, steif sind ihre Glieder, und nur wie ein winziges Glühwürmchen glimmert das Goldlicht des Lämpchens noch neben ihr.

          Hätte nun Regotsch aufgeschrien vor Leid, das hätte die unterirdische Welt erschüttert und das Lämpchen gelöscht — das winzige Glühwürmchen neben Kosjenka wäre verschwunden. Doch das Leid hatte Regotsch die Kehle so zusammengeschnürt, daß er nicht schreien konnte, er streckte nur seine mächtige Hand durch das Loch, faßte behutsam die steife und kalte Kosjenka, bettete sie in die hohle Hand, und nun wärmte er sie zwischen beiden Hohlhänden wie ein Wintervögelein. Und sieh! Nach einem Weilchen bewegt Kosjenka das Händchen — gleich leuchtet das Lämpchen auf. Dann bewegt Kosjenka den Kopf— und noch heller leuchtet das Lämpchen. Endlich öffnet Kosjenka die Augen — da flammt das Lämpchen auf, leuchtet so hell, als brenne lauteres Gold darin.

          Kosjenka springt auf ihre Füßchen, faßt Regotsch beim Barte, und beide brechen vor übergroßer Freude in Tränen aus. Regotsch' Tränen waren so groß wie Birnen, Kosjenkas Tränlein winzig wie Hirsekörnchen: doch im Grunde war es eins und dasselbe, und von dieser Zeit an hatten die beiden einander noch weit mehr lieb.

          Nachdem sie sich sattgeweint, suchten sie auch nach Kosjenkas Perlen, fanden sie und setzten dann ihre Reise von neuem fort. Doch unter der Erde rührten sie nichts mehr an: weder versunkene Schiffe, die, mit Schätzen beladen, vom Meeresgrunde hiehergelangt waren noch die roten Korallen oder den gelden Bernstein, der in Schnüren um die Säulen gewunden war. Nichts rührten sie an, hielten sich nirgends auf, gingen vielmehr ihres Weges gerade, um bei den goldenen Feldern herauszukommen.

          Als sie so lange gegangen waren, bat Kosjenka Regotsch, er möge sie in die Höhe heben. Und als er dies getan, langte Kosjenka etwas von der Erde über ihnen herab. Dann musterte sie diese Erde, und siehe! Blätter, Holzsplitterchen waren mit ihr vermischt.

          »Da sind wir, Regotsch, unter dem Walde, bei den goldenen Feldern angelangt!« rief Kosjenka. »Komm, laß uns hier hinaus!«

          Da reckte sich Regotsch auf und begann die Erde mit seinem Kopf zu durchbrechen.

 

2.

 

          Und wirklich gab es da Wald über ihnen, und zwar gerade ein Waldtal an der Grenze zweier Dörfer und zweier Gebiete. Dieses Tal ward von niemand sonst aufgesucht als von Hirten und Hirtinnen aus beiden Dörfern und beiden Gebieten.

          Es bestand böser Hader und Zwist zwischen den beiden Dörfern. Zwist wegen der Tenne und wegen der Weide, der Mühlen wegen, der Holzschläge wegen, am allerheftigsten jedoch des Stabes halber, den von alters her der Dorfälteste trug und den schon seit langem das eine Dorf haben wollte, das endere aber nicht hergab. Und so waren die beiden Dörfer einander feind.

          Doch Hirten und Hirtinnen aus beiden Dörfern waren törichte Kinder. Weder kehrten sie sich an der Erwachsenen Zank, noch verstanden sie ihn, vielmehr kamen sie Tag um Tag an der Grenze beider Dörfer und beider Gebiete zusammen. Ihre Schafe vermengten sich und grasten miteinander, die Hirtenkinder aber spielten zusammen, und öfter vergaßen sie in allzu eifrigem Spiele der Zeit und kamen am Abend mit ihren Schafen verspätet nach Hause.

          Darüber gab es in beiden Dörfern Schelte und Geschrei. Doch in einem der Dörfer lebten ein Urgroßvater und eine Urahne, die alles das in Erinnerung hatten, was je in beiden Dörfern geschehen war. Sie sprachen: »Lasset, Leutchen, die Kinder sein! Ihre Spiele im Waldtal werden euch besser fruchten als der Weizen auf euren Feldern.«

          Die Hirtenkinder aber zogen nach wie vor mit ihren Schafen in jenes Waldtal, denn eigentlich fragten die Alteren nicht allzuviel nach ihrem Treiben.

          So war's auch an jenem Tage, als Regotsch die Erde zu durchbrechen begann. Eben waren Hirten und Hirtinnen unter der höchsten Eiche zusammengekommen und bereiteten sich zum Heimwege vor. Der eine band seine Opanken fest, der andere befestigte seine Peitsche am Peitschenstiel, die Hirtinnen aber trieben die Schafe zusammen. Da hören sie plötzlich, wie etwas unter ihren Füßen fürchterlich gegen die Erde stÖßt. Einmal stößt es und zweimal — und bei dem dritten Stoß bricht die Erde entzwei, und just in ihrer Mitte steigt ein fürchterlich großer Kopf, groß wie ein Faß, empor, mit einem Barte, so struppig und wirr wie ein Maisstrohschober, und am Barte noch Rauhreif die Menge von Legengrad.

          Die Kinder schrien vor Schrecken auf und fielen zu Boden. — Nicht so sehr vor dem Kopfe, groß wie ein Faß, als vor dem Barte, struppig und wirr wie ein Maisstrohschober, waren die Kinder so zu Tode erschrocken.

          Alle, wie sie da waren, fielen zu Boden, nur der kleine Liljo nicht. Liljo, das schönste und klügste Kind beider Dörfer und beider Gebiete.

          Aufrecht blieb Liljo auf seinen Beinen und näherte sich, um zu sehen, was denn da für ein Wunderding aus der Erde käme.

          »Fürchtet euch nicht, ihr Brüder«, sprach Liljo zu den Hirten. »Solch ein Ungeheuer konnte Gott doch nicht zu Bösem erschaffen. Denn wäre es bös, so hätte es längst die halbe Welt umgebracht.«

          Liljo trat Regotsch näher und Regotsch hatte gerade den Korb mit Kosjenka vom Ohre genommen und auf den Rasen gestellt.

          »Brüder! Herbei, herbei!« rief Liljo. »Mit ihm ist ein Mädchen, klein und wunderschön wie ein Stern.«

          Hirten und Hirtinnen standen vom Boden auf, und nun guckten sie, eines hinter dem andern stehend, Kosjenka an, dann aber näherten sich ihr als erste gerade die, die am ärgsten erschrocken waren, denn die waren eben in allem die Hurtigsten.

          Sofort gewannen Hirten und Hirtinnen die kleine, wunderschöne Kosjenka sehr lieb, hoben sie aus dem Korb, führten sie zu dem weichsten Rasenplatz und begannen ihre herrlichen Kleider anzustaunen — Kleider, die weich und glänzend waren wie Morgenlicht. Am meisten aber waren die Kinder von Kosjenkas Wilenschleier entzuckt, denn Kosjenka brauchte ihn nur ein klein wenig zu schwingen, und sofort schwebte sie hoch über den Rasen hin.

          Voll Freude schlossen Hirten, Hirtinnen und Kosjenka nun einen Reigen und führten allerlei Tänze aus. Kosjenkas Füßchen wirbeln nur so vor Ubermut, Augen und Mündchen lachen, sie ist so herzensfroh, Gespielen getroffen zu haben, die all das lieben was auch ihr lieb ist.

          Hierauf zieht Kosjenka ihr Perlensäckchen hervor — beschenkt und erfreut ihre Gefährten und Gefährtinnen. Sie wirft eine Perle fort und — in ihrer Mitte wächst sogleich ein Bäumchen empor, am Bäumchen bunte Bänder, seidene Tüchelchen und rote Korallenreihen für die Hirtinnen. — Sie wirft noch eine Perle fort — und sogleich kommen stolze Pfauen rings aus dem Walde; stolzieren heraus, stolzieren vorüber, fliegen davon — und der Rasen, ganz mit farbenprächtigen Federn bestreut, glitzert über und über. Gleich schmücken die Hirten Kappen und Jäckchen damit. Noch eine Perle wirft Kosjenka fort, da wiegt sich vom hohen Ast eine goldene Schaukel an seidenen Schnüren vor ihnen — und wenn Hirten und Hirtinnen sich darin schaukeln, hebt sich die Schaukel hoch wie eine Schwalbe und senkt sich so sachte, als wär's eines Dogen Galeere.

          Die Kinder jauchzen vor Lust und Kosjenka wirft Perlchen auf Perlchen von sich und denkt nich daran, daß sie sie bewahren sollte, denn sie liebt nicht so sehr auf der lieben Welt als hübsche Spiele und lustige Lieder. So wirft sie denn alles bis auf das letzte Körnchen von sich — weiß Gott, ob sie ihr und den Hirten nicht bald vonnöten sein könnten!

          »Nie mehr will ich fort von euch!« jauchzte Kosjenka, die Hirten und Hirtinnen aber klatschten in die Hände und warfen auf diese Worte hin vor lauter Freude ihre Käppchen hoch in die Luft.

          Liljo allein hielt sich nicht zu ihnen und hatte nicht mitgespielt — denn er war heute etwas bedrückt und betrübt. Er stand nahe bei Regotsch und sah von da, wie lieblich Kosjenka war und wieviel des Wunderbaren sie in diesem Haine schuf.

          Unterdessen war Regotsch aus seinem Loche hervorgekommen. Hervorgekommen, reckte er sich unter den Waldbäumen hoch, und siehe, sein Kopf überragte den ganzen hundertjährigen Wald, so fürchterlich groß war der Riese Regotsch.

          Sah also Regotsch über den Wald auf die Ebene hin.

          Die Sonne war eben untergegangen und der Himmel glührot. In der Ebene sah man zwei — und aus den Feldern blinkten zwei weiße goldene Felder, zwei goldenen Tüchern gleich Dörfer — weißen Tauben vergleichbar. Unweit der Dörfer floß der mächtige Fluß Unheilflut, und seinen Ufern entlang erhoben sich mit grünem Grase bewachsene Dämme. Auf den Dämmen sah man Hirten und Herden.

          »Ei, wahrlich, wozu habe ich tausend Jahre lang in Legengrad gelegen, in jener Einöde — wo es doch auf der Welt solche Herrlichkeiten gibt«, murmelte Regotsch.

          Regotsch gefiel es so sehr, auf die Ebene hinzuschauen, daß er seinen Kopf unaufhörlich nach rechts und links drehte, der, groß wie ein Faß, sich gleich einer ungeheuren Vogelscheuche über dem Walde wiegte.

          Doch bald rief ihm Liljo zu:

          »Setz dich, Onkelchen, damit die Dorfältesten dich nicht erblicken.«

          Regotsch setzte sich, die beiden kamen bald ins Gespräch und Liljo erzählte Regotsch die Ursache seiner Betrübnis.

          »Diesen Abend noch wird ein großes Unglück geschehen«, sagte Liljo. »Heute nacht, als die Dorfältesten unseres Dorfes zu Rate saßen, hab ich zugehört. 'Laßt uns den Damm des Flusses Unheilflut an einer Stelle durchbohren', so redeten sie. 'Das Wasser wird das Loch größer machen, der Damm stÜrzt dann ein, das Wasser wird sich gegen das Feindesdorf wälzen, Männer und Frauen, Felder und Gräber, alles wird es vernichten, und das Wasser wird sich über allem glätten und schließen und ein Meer wird dort sein, wo früher das Feindesdorf stand. Unsere Felder jedoch und unser Dorf, weil sie höher liegen, bleiben verschont.' So besprachen sie sich — dann gingen sie. Wirklich nahmen sie einen schweren Bohrer mit und durchbohrten heimlich bei Nacht den Damm. Ich aber, Onkelchen, kann dir sagen«, fügte Liljo hinzu, »daß unser Dorf und unsere Felder nicht so hoch gelegen sind und ich weiß, da die Wasser sich auch über uns schließen werden und heute noch wird ein Meer dort sein, wo bis jetzt unsere beiden Dörfer gestanden haben. Deswegen, Onkelchen, bin ich so traurig.«

          Kaum hatte er ausgesprochen, als von der Ebene her ein furchtbarer Lärm und großes Hallogeschrei zu ihnen drang.

          »Da haben wir's, jetzt ist das Unglück fertig!« rief Liljo.

          Regotsch richtet sich auf, hebt Liljo in seinen Armen hoch und beide schauen nun über die Ebene hin. Ist das ein Jammer! Der Damm ist eingestürzt, die finsteren, gewaltigen Fluten des Flusses Unheilflut wälzen sich in zwei Armen über die prächtigen Felder. Ein Strom fließt dem einen der Dörfer zu, der andre dem zweiten. Die Herden ertrinken, die goldenen Felder verschwinden unter dem Wasser, Kreuze werden von den Gräbern gewälzt — und aus beiden Dörfern schallt Lärm und Hallogeschrei! In beiden Dörfern waren die Dorfältesten mit Trommeln und Pauken auf die Tennen gerückt — sie paukten und trommelten dort aus Leibeskräften, ein Dorf dem andern zum Trotz — so arg hatte ihnen die Bosheit die Sinne verwirrt. Die Dorfhunde heulten, Weiber und Kinder weinten und wehklagten dazu und sie alle machten das tolle Geschrei noch größer.

          »O du mein Onkelchen!« rief Liljo aus, »warum hab' ich nicht deine Arme, um das Wasser dort aufzuhalten!«

          Indes hatten sich Hirten und Hirtinnen mit Kosjenka um Regotsch versammelt, denn der furchtbare Lärm in der Ebene hatte ihnen Angst eingejagt.

          Als Kosjenka vernahm, was geschehen war, sprach sie, klug und schnell gefaßt, wie es einer kleinen WIIa geziemt:

          »Laß uns hin, Regotsch, du sollst das Wasser aufhalten.«

          »Laßt uns gehen! — Laßt uns gehen!« riefen Hirten und Hirtinnen beider Dörfer und beider Gebiete, ohne Unterlaß jammernd und klagend. »Laßt uns gehn! Regotsch! Nimm uns mit, nimm uns mit!«

          Da bückte Regotsch sich, hob Kosjenka und Liljo (Kosjenka trug ihr Lämpchen) auf seinen rechten Arm und die übrige Hirtenschar auf den linken — dann lief er mit seinem Zehnklafterschritt den Waldschlag entlang der Ebene zu. Schafe und Lämmer stürzten ihm blökend nach. So erreichten sie hurtig die Ebene.

          Durch Nebel und Dämmerung lief Regotsch so mit den Kindern auf seinen Armen — gegen den Damm zu — ihm folgten die scheugewordenen Schafe in wilder Verwirrung nach. Die Fluten aber, die dunklen Fluten des Flusses Unheilflut, wälzen sich ihnen entgegen, vernichten, verschlingen alles auf ihrem Wege. Furchtbar ist die Gewalt jener Gewässer. Wird sie mächtiger sein als Regotsch', des Riesen, Kraft? Wird sie auch Regotsch zu Boden reißen? Wird die wunderschöne kleine Wila Kosjenka, schön wie ein Stern, in ihnen versinken?

          Im Laufe den Fluten ausweichend, lief Regotsch, lief, was er konnte, über die Wiesen hin. Atemlos kam er am Damm an, wo sich die große Bresche geöffnet hatte und das Wasser mit fürchterlicher Gewalt hervorschoß.

          »Halt es auf, o halt es auf, Regotsch!« jammern die Kinder.

          Nahe dem Damme erhob sich ein kleiner Hügel inmitten der Ebene.

          »Stell uns auf diesen Hügel hin!« rief Kosjenka.

          Regotsch stellt Liljo, Kosjenka, Hirten und Hirtinnen auf dieses Hügelchen, Lämmer und Schafe drängen sich um sie herum. Rings um das Hügelchen fluten schon die Gewässer.

          Watet Regotsch dann mit seinem Riesenschritt in das Wasser hinein, legt sich gegen den Damm, will die Bresche mit seiner gewaltigen Brust verschließen. Für den Augenblick steht das Wasser still, dann aber stÜrzt es von neuem hervor, denn so unbändig ist seine Kraft, daß ihr nichts widerstehen kann. Drängt das Wasser an mit seiner ganzen Macht, steigt bis zu Regotsch' Schultern empor, bricht darüber, darunter und rings um ihn wieder durch — und wälzt sich von neuem über die Ebene. Breitet Regotsch die Arme aus, scharrt mit beiden Händen Erde zusammen, stopft sie in die Bresche — doch was er errafft und ballt, wird gleich von der Wassergewalt wieder fortgerissen. So stieg denn das Wasser im ebenen Land immer höher und höher. Feld und Dorf, Herden und Tennen waren nicht mehr zu sehen. Von beiden Dörfern ragten nur noch die Dächer und beide Kirchtürme aus den Fluten hervor.

          Auch um das Hügelchen, auf dem Hirten und Hirtinnen mit Liljo und Kosjenka standen, hob das Wasser sich mehr und mehr; Kläglich weinten die armen Hirtenkinder. Der rief nach der Mutter, der nach Bruder und Schwesterchen, dieser und jener klagte wohl auch um Haus und Garten, denn man sah nur zu gut, daß in beiden Dörfern alles vernichtet war und es keine Rettung mehr gäbe. — Auch um sie selber wuchs ja die Flut empor.

          Und wie sie wuchs, drängten sich auch die Kinder immer enger zusammen am Gipfel des Hügelchens — bange drückten sie sich an Liljo und Kosjenka, die in ihrer Mitte standen.

          Blaß und stumm wie ein Steinbild steht Liljo da — doch Kosjenkas Augen funkeln und sie hält ihr Lämpchen hoch, um Regotsch bei seiner Arbeit zu leuchten. Kosjenkas Wilenschleier hebt sich und senkt sich mit dem Abendwind — er flattert über dem Wasser, als werde jetzt und jetzt die kleine Wila sich in die Luft erheben und diesem Schrecknis entrückt sein.

          »Kosjenka, o Kosjenka! Verlaß uns nicht! Flieg uns nicht davon!« jammern die Hirten — denn es ist, als wäre ein Engel bei ihnen, wenn sie auf Kosjenka sehen.

          »Nein!« ruft Kosjenka. »Nein, ich gehe nicht fort!« — Doch ihr Schleier weht und weht, als wolle er sie über die Wasser hinauf zu den Volken tragen.

          Da ertönte ein Schrei. Das Wasser hatte den Kleidsaum einer Hirtin erreicht und diese herabgezogen, um sie mit sich zu reißen. Liljo ließ sich jedoch im selben Augenblicke herunter, ergriff die Hirtin und zog sie wieder den Hügel hinauf.

          »Aneinanderbinden müssen wir uns!« riefen die Hirten, »aneinanderbinden, sonst sind wir verloren.«

          »Da, Brüder, da!« rief jetzt Kosjenka, die ein sehr gütiges Herzchen hatte. Rasch hatte sie ihren Wilenschleier von den Schultern gezogen und gab ihn den Hirten. Diese rissen den Schleier in Streifen, knüpften diese zu einem langen Bande zusammen und banden sich einer an den andern um Liljo und Kosjenka. An die Hirten gedrängt aber strebten rings die armen Lämmer empor, um sich vor dem Ertrinken zu retten.

          So stand Kosjenka nun in dieser Not als hilfloses Waislein da wie die übrigen Hirten. Ihre Perlen hatte sie im Spiele vergeudet, ihren Wilenschleier aus Mitleid verschenkt und zerrissen — jetzt konnte sie weder von dannen fliegen noch sich aus dieser Not erretten.

          Doch Liljo hatte Kosjenka liebgewonnen — lieber als irgend etwas auf dieser Welt—, und als das Wasser an ihre Füße zu schlagen begann, da rief er: Fürchte dich nicht, Kosjenka! Halten will ich dich, hüten will ich dich!« und hob sie in seine Arme.

          Kosjenka umschlang mit einer Hand Liljos Hals, mit der andern hielt sie ihr Lämpchen hoch gegen Regotsch empor.

          Regotsch, immer mit der Brust noch im Wasser liegend, kämpft und kämpft ohne Unterlaß mit den Fluten. Links und rechts von Regotsch' Schultern ragen die Ränder der abgebröckelten Wände der Bresche empor — wie zwei große Hörner sehen sie aus. Zerzaust ist Regotsch' Bart, zerfetzt sein Hemd und seine Schultern bluten. Doch die Fluten des Flusses Unheilflut kann er nicht zurückstauen und das Meer um den Hügel steigt und steigt und trachtet die Hirtenschar zu ertränken. Und schon rückt die finstere Nacht zu auf Mitternacht.

          Mit einemmal blitzt ein Gedanke in Kosjenka auf und durch das Wehgeschrei und die Klage der Hirten erklang ihr Lachen, als sie Regotsch zurief:

          »Regotsch, du Tropf, du alberner Kopf! So setze dich doch zwischen jene zwei Hörner im Damme! So halte das Wasser doch mit deinem Rücken auf!«

          Die Hirtenkinder verstummten im Augenblicke vor Staunen. Wie kam es doch, daß niemand früher daran gedacht?

          »Uhuhu!« dröhnte es, und das war Regotsch, der lachte. Und das will etwas heißen, wenn Regotsch lacht! Das ganze Meer um ihn brodelt und sprudelt, so herzlich lacht er sich ob seiner Dummheit aus.

          Dann hebt sich Regotsch auf, wendet sich um und — hast's nicht gesehen — da sitzt er schon in der Bresche zwischen den Hörnern!

          O du mein Gott! Das Wunder! Aufgehalten ist sie, die Flut Unheilflut, als wäre ein Felsblock in die Bresche gefallen! Sie steht. Über Regotsch' gewaltigen Rücken kann sie nicht fluten, sie muß in ihr Bett zurück, wo sie vordem floß, Regotsch' gewaltigen Rücken immerzu streifend. Wunder und Rettung! O himmlische Güte du!

          Gerettet sind Hirten und Hirtinnen aus ärgster Not. Und Regotsch? Ganz schön sitzt er da, hat mit den Händen Erde an sich gerafft und die Bresche gemach unter und um sich herum zu verschließen begonnen. Um die Mitternachtsstunde hat er die Arbeit begonnen, wie der Tag anbricht, ist sie fertig. Just steigt die Sonne auf und Regotsch erhebt sich vom wieder geschlossenen Damme und säubert seinen Bart, in dem sich Schlamm, Holzstücke und Fischlein verfangen haben.

          Das Ende der Not war jedoch noch nicht gekommen. Denn wohin sollten die armen Hirtenkinder? Wohin und zu wem? Da stehen sie noch auf ihrem Hügelchen. Rings umher nichts als Wasser, die öde See! Von den beiden Dörfern ragt nur noch hie und da ein Dächlein hervor und weit und breit ist keine Seele am Leben geblieben.

          Vielleicht hätte es für jene Dörfler auch Rettung gegeben, wäre jeder unter das Dach seines Hauses geflohen; sie waren jedoch so schadenfroh gewesen, daß sie sowohl in dem einen als in dem andern Dorfe mit Pauken und Trompeten auf die Tennen gerückt waren, um ihre Freude zu bekunden und sich wechselseitig am Untergange des feindlichen Dorfes zu ergötzen. Auch als das Wasser ihnen schon bis zum Gürtel gestiegen war, ließen sie immer noch ihre Zimbeln erklingen — und als es ihnen dann bis zum Halfe reichte, stießen sie immer noch schadenfroh in ihre Flöten. — So kamen sie denn alle um, samt Pauken und Trompeten, eine rechte Strafe Gottes für ihre Bosheit.

          Doch die armen Hirtenkinder waren auf diese Art mutterseelenallein in der Welt geblieben. Wer sollte sie nähren, wer sie schützen? Wo fanden sie Heim und Herd?

          »Spatzen sind wir nicht, können nicht auf dem Dache leben«, sagten die Kinder traurig, indem sie auf die Dächlein hinblickten, die einzig noch über das Wasser ragten. »Auch Füchse sind wir nicht, können uns nicht in Bergeshöhlen verkriechen. Könnten wir unsere Dörfer vom Wasser befreien, dann ließe sich's doch noch leben — so wird es wohl für uns das beste sein, mitsamt unseren Herden ins Wasser zu springen. Was bleibt uns anderes übrig? Wir haben kein Wie, kein Wohin!«

          Das war freilich traurig und betrübte auch Regotsch gar sehr — aber solch einem Übel vermag er nicht abzuhelfen — und indem er den See rings betrachtet, spricht er: »Ausschöpfen kann ich ein so großes Wasser nicht, auch austrinken nicht, um die Dörfer freizubekommen. Was soll ich da, Kinder, tun?«

          Da meldet sich Liljo, das klügste Kind jener Gebiete:

          »Regotsch, mein Onkelchen! Kannst du so viel Wasser nicht trinken — die Erde kann es, die Erde! Stampf doch ein Loch in die Erde, laß dieses ganze Meer in die Erde hinab!«

          Du mein Gott, wie groß ist die Klugheit des Kindes, das kaum so hoch ist wie ein Finger von Regotsch! Regotsch schlägt also wirklich ein Loch in die Erde und die, einem Drachen ähnlich, der riesigen Durst hat, schlürft das Wasser ein, schlürft ohne Unterlaß, schluckt es, saugt das ganze gewaltige Meer aus der Ebene in sich ein. Es dauert nicht lange und das Wasser ist aufgesaugt, die Dörfer zeigen sich wieder und Felder und Wiesen — alles schlammbedeckt, niedergelegt — aber alles am alten Fleck.

          Groß war die Freude der traurigen Hirtenkinder, doch so froh wie Kosjenka war niemand. Sie klatschte in ihre Händchen und rief:

          »Ei, welch eine Pracht soll das werden, wenn das Gefild wieder goldig wird und die Wiesen grün!«

          Da senkten Hirten und Hirtinnen wieder die Köpfe und Liljo sprach:

          »Wer soll uns das Ackern und Säen lehren, da uns von den Alteren niemand geblieben ist?«

          Wahrlich, weit und breit war kein älterer Mensch mehr zu finden, und dieses Häuflein unglücklicher Kinder stand ganz allein in der schlammigen Ebene da — allein mit Regotsch, der so ungeschickt, so ungeschlacht und so riesenhaft war, daß er nicht einmal seinen Kopf unter ein Dach stecken konnte. Und gar was die Arbeit betrifft! Keinen Dunst hatte Regotsch von ihren Pflügen und Feldern!

          Da wurden sie alle aufs neue betrübt, am meisten Regotsch, der die wunderliebe Kosjenka so sehr in sein Herz geschlossen und jetzt weder ihr noch der Hirtenschar helfen konnte.

          Doch das Schlimmste von all dem war, daß Regotsch nach seinem öden Legengrad Sehnsucht verspürte! Er hatte in jener Nacht so viel Schlamm geschluckt und so viel Unheil gesehen, daß er auf tausend Jahre genug davon hatte. Darum war der Wunsch nach seinem gewaltigen, öden Legengrad in ihm erwacht — nach jenem Legengrad, wo er in Ruhe so viele hundert und hundert Jahre hindurch Steine gezählt hatte.

          Betrübt standen also wieder die Hirten da, betrübt war auch Liljo, am allermeisten aber war Regotsch betrübt. Es war ein rechter Jammer, dieses Trüpplein verlassener Kinder anzusehen, die ohne Hut und Weisung Alterer wie Blumen ohne Wurzel und Erdreich verwelken mußten.

          Kosjenka allein warf muntere Blicke um sich. Sie konnte nie traurig sein. Plötzlich rief sie aus:

          »Seht hin! Seht hin! Was für Menschen sind das? Fürwahr, die könnten Wunder und Geschichtchen erzählen!«

          Alle blickten zum Dorfe hin, und sieh da! Aus einem Fensterchen lugten zwei Köpfe, ein Greis und eine Greisin, hervor. Sie winken mit einem Tüchlein, sie rufen die Kinder bei ihren Namen an, sie lachen, daß ihre Faltengesichter vor Freude erglänzen. Das ist der Urgroßvater, das ist die Urahne! Sie hatten, die einzigen Klugen in bleiden Dörfern, sich unter das Dach ihres Hauses hinaufgeflüchtet!

          Du lieber Gott! Hätten die Kinder an jenem Fensterchen den Morgenstern oder die Sonne des Aufgangs erblickt, sie hätten so froh nicht aufgejauchzt. Bis zum Himmel dringt ihr Freudengeschrei: »Urgroßvater! Urahne!«

          Und einer jungen Windspielmeute gleich rennen die Kinder dem Dorfe zu, Kosjenka, deren goldenes Haar im Winde flattert, allen voran, ihnen nach Schafe und Lämmer. In einem Atem laufen sie bis zum Dorfe hin, wo an der Schwelle des Hauses das Ahnenpaar ihnen die Arme entgegenstreckt. Urahn und Urahne schließen die Kinder in ihre Arme, halten sie umschlungen und alle zusammen wissen sie Gott nicht genug zu danken, daß er den Alten die Weisheit verliehen, sich unter das Dach des Hauses hinaufzuflüchten. Dies war schon deshalb ein rechtes Glück, weil die Bewohner der beiden Dörfer einfältige Leute gewesen waren und es bei ihnen weder Bücher noch Schriften gab — wären also Greis und Greisin nicht am Leben geblieben, wer hätte der Hirtenschar später das durch Tücke entstandene Unglück erklären können und sein Gedächtnis bewahrt.

          Nachdem sie einander also begrüßt und umarmt, dachten sie wieder an Regotsch. Sie sahen sich in der Ebene um. — Wo ist Regotsch? Weit und breit nirgends ein Regotsch zu sehen — keine Spur von einem Regotsch. Verschwunden ist Regotsch, der Riese, wie ein Mäuslein im Loch.

          Und wirklich war Regotsch wie eine Maus in ihrem Loche verschwunden. Als nämlich aus dem Unterdach Urgroßmutters und Urgroßvaters Gesichter erschienen waren, war Regotsch erschrocken wie nie im Leben zuvor. Erschrocken vor ihren faltigen, runzeligen, durchfurchten Greisengesichtern.

          »Du lieber Gott, was für greuliche Dinge mußten die Greise in dieser Gegend erleben, um solche Gesichter zu haben«, dachte sich Regotsch, und im Ubermaß seines Schreckens sprang er im selben Augenblicke hinab in das Loch, in welches die Flut Unheilflut versunken war — um unter der Erde nach seinem öden Legengrad zurückzulaufen.

 

*

 

          Nun wendete sich im Dorfe alles zum Guten. Die Ahnen unterwiesen die Kinder und diese ackerten und säten. Nach dem Rate der Alten erbauten sie nur ein Dorf und nur eine Tenne, nur eine Kirche und nur einen Friedhof, auf daß es unter ihnen keine Bosheit und kein Unheil mehr gäbe.

          So ging alles glatt, das Schönste von allem war jedoch, daß sie in des Dorfes Mitte einen wunderschönen Wartturm von Marmor errichtet hatten. Marmor aus den Bergen her; hoch oben auf der Warte aber hatten sie einen Garten, im Garten Orangenbäume und Lorbeergesträuch. Da wohnt jetzt die wunderschöne Kosjenka und beschaut von der Warte aus wie aus Wolkenhöhen die ganze Gegend, die ihr gleich, als sie das erstemal zur Erde herabgestiegen, so lieb geworden war.

          Am Abend, wenn die Feldarbeit getan war, führte Liljo die Hirten und Hirtinnen zum Wartturm hinauf, dort, im Garten, beim Mondenschein spielten sie ihre Spiele, sangen sie ihre Liedchen, tanzten sie ihren Reigen mit der wunderholden, liebblütigen, herzensfrohen Kosjenka.

 

*

 

          Regotsch jedoch war unter der Erde den Fluten des Flusses Unheilflut wieder begegnet, es dröhnte und gurgelte unter der Erde ganz fürchterlich, während Regotsch mit ihnen kämpfte — bis er sie immer tiefer und tiefer hinunterdrängte, tief bis zum Höllengrund, damit sie der Tücke der Menschen nicht mehr dienen könnten.

          Dann ging Regotsch weiter und weiter bis Legengrad. Dort sitzt er auch jetzt noch, zählt seine Steine ab und betet zu Gott, er möge ihn nie mehr aus seinem gewaltigen, öden Legengrad wegkommen lassen — denn nach Legengrad, dort gehört der gewaltige, törichte Regotsch hin.